diesem Wind in fünf bis sechs Stunden dort sein.«
»Wollen Sie ihn bitte anrufen, dass er mich an Land bringt?«
»Tut mir leid, aber mein Signalbuch ist über Bord gefallen«, meinte er, und die Jäger grinsten.
Ich blickte ihn scharf an, und die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf. Ich hatte die schreckliche Behandlung des Kajütsjungen mit angesehen und wusste, dass mir höchstwahrscheinlich das Gleiche, wenn nicht Schrecklicheres blühte. Wie gesagt: die Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, und dann tat ich, was ich heute noch für die tapferste Tat meines Lebens halte. Ich lief an die Reling, schwenkte die Arme und schrie:
»›Lady Mine‹, ahoi! Bringt mich an Land! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!«
Ich wartete und beobachtete am Rad zwei Männer, von denen der eine steuerte. Der andere hob ein Sprachrohr an die Lippen. Ich wandte nicht den Kopf, obgleich ich jeden Augenblick den tödlichen Schlag von der menschlichen Bestie hinter mir erwartete. Schließlich konnte ich die Spannung nicht länger ertragen. Ich sah mich um. Er hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er stand noch in derselben Stellung da, schwankte leicht im Rollen des Schiffes und zündete sich eine neue Zigarre an.
»Was gibt es? Ist etwas geschehen?« So rief der Mann auf der ›Lady Mine‹.
»Ja«, schrie ich mit der vollen Kraft meiner Lungen. »Leben oder Tod! Tausend Dollar, wenn ihr mich an Land bringt!«
»Die Gegend bekommt meiner Mannschaft nicht gut«, rief Wolf Larsen jetzt hinüber. »Der« – er wies mit dem Daumen auf mich – »glaubt überall Seeschlangen und Affen zu sehen.«
Der Mann auf der ›Lady Mine‹ lachte durchs Megaphon. Das Lotsenschiff setzte seinen Kurs fort.
»Schickt ihn zum Teufel!« ertönte der letzte Ruf, und die beiden Männer winkten zum Abschied.
Verzweifelt lehnte ich mich über die Reling und starrte dem kleinen Schoner nach; die wogende Wüste wuchs rasch zwischen ihm und uns. Er war in sechs Stunden vermutlich in San Francisco! Mir war, als sollte mir der Kopf springen. Der Hals schnürte sich mir zusammen. Eine Sturzsee schlug über die Reling und besprühte mir die Lippen mit Salzwasser. Der Wind war aufgefrischt, und die ›Ghost‹ krengte so stark, dass die Reling auf Lee ganz unter Wasser begraben war. Ich konnte hören, wie es über das Deck spülte.
Als ich mich kurz darauf umwandte, sah ich, wie der Junge schwankend wieder auf die Beine kam. Sein Gesicht war geisterhaft weiß und von unterdrücktem Schmerz verzerrt. Er sah sehr elend aus.
»Na, Leach, gehst du nun nach vorn?« fragte Wolf Larsen.
»Jawohl, Käptn«, antwortete die geduckte Seele.
»Und Sie?« fragte er mich.
»Ich gebe Ihnen tausend …«
Aber er unterbrach mich: »Lassen wir das! Wollen Sie den Posten des Kajütsjungen übernehmen? Oder soll ich Sie erst in die Mache nehmen?«
Was sollte ich tun? Wenn ich mich brutal prügeln, vielleicht totschlagen ließ, nützte es mir auch nichts. Ich starrte in die grausamen Augen. Sie hätten aus Granit sein können, so wenig Lieht und Wärme einer menschlichen Seele leuchtete aus ihnen. In den Augen mancher Menschen kann man die Regungen ihrer Seele lesen, aber die seinen waren leer, kalt und grau wie das Meer selbst. »Nun?«
»Ja«, sagte ich.
»Sagen Sie: ›Jawohl, Käptn‹!«
»Jawohl, Käptn!« verbesserte ich mich.
»Wie heißen Sie?«
»Van Weyden, Käptn.«
»Vorname?«
»Humphrey, Käptn; Humphrey van Weyden.«
»Alter?«
»Fünfunddreißig, Käptn.«
»Das genügt. Gehen Sie zum Koch und lassen Sie sich in Ihren Pflichten unterweisen.«
Und so geschah es, dass ich in ein unfreiwilliges Dienstverhältnis zu Wolf Larsen trat. Er war stärker als ich, das war alles. Aber ich habe es weder damals noch später je begriffen. Es wird mir immer als etwas Ungeheuerliches, Unverständliches, als ein furchtbarer Alp erscheinen.
»Halt, warten Sie noch!«
Folgsam blieb ich stehen.
»Johansen, rufen Sie die ganze Mannschaft zusammen. Jetzt ist alles im reinen, und da ist es am besten, wenn wir gleich das Begräbnis vornehmen und das Deck von unnützem Unrat säubern.«
Während Johansen die Wache heraufrief, legten ein paar Matrosen die eingenähte Leiche nach Anweisung des Kapitäns auf einen Lukendeckel. Zu beiden Seiten des Decks hingen kleine Boote über die Reling. Einige Mann hoben den Lukendeckel mit seiner grässlichen Last und trugen ihn nach Lee hinüber, wo sie die Leiche, die Beine außenbords, auf eines der Boote legten. Der Kohlensack, den der Koch geholt hatte, wurde ans Fußende gebunden.
Unter einem Begräbnis auf See hatte ich mir immer etwas sehr Feierliches vorgestellt, aber bei diesem Begräbnis schwanden meine Illusionen schnell und gründlich. Einer von den Jägern, ein kleiner schwarzäugiger Mann, den seine Kameraden Smoke nannten, erzählte stark mit Flüchen und Zoten gespickte Geschichten, und jeden Augenblick brach die ganze Jägergruppe in ein Gelächter aus, das in meinen Ohren wie ein Chor von Wölfen oder das Gekläff der Höllenhunde klang. Die Matrosen versammelten sich geräuschvoll achtern, einige von der Mannschaft rieben sich den Schlaf aus den Augen und unterhielten sich leise. Auf ihren Zügen lag ein unheilverkündender, mürrischer Ausdruck. Es war deutlich zu sehen, dass die Aussicht auf eine Fahrt unter diesem Kapitän, die dazu noch unter so üblen Vorbedeutungen begonnen hatte, sie nicht lockte. Hin und wieder warfen sie verstohlene Blicke auf Wolf Larsen, und ich konnte merken, dass sie den Mann fürchteten.
Er schritt zum Lukendeckel, und alle Mützen wurden abgenommen. Ich ließ meinen Blick über sie schweifen – es waren zwanzig Mann, zweiundzwanzig mit dem Mann am Ruder und mir. Es ist wohl begreiflich, dass ich sie neugierig musterte, sollte es doch nun mein Schicksal sein, ihr Los, eingepfercht in diese schwimmende Miniaturwelt, wer weiß wie viele Wochen und Monate zu teilen. Die Matrosen bestanden hauptsächlich aus Engländern und Skandinaviern mit groben, ausdruckslosen Gesichtern. Die Jäger hingegen hatten scharfe, harte, von zügelloser Leidenschaft geprägte Züge. Merkwürdigerweise sah ich sofort, dass Wolf Larsens Gesicht nicht diesen Ausdruck von Verderbtheit hatte. Gewiss, es hatte auch scharfe Linien, aber nur Linien, die von Entschlossenheit und Festigkeit sprachen. Seine Miene war von einem Freimut