»Tom, seit wann bist du Sozialist?«
»Seit acht Jahren.«
»Und du hast nichts damit erreicht?«
»Nein, aber es wird schon kommen – mit der Zeit.«
»Wenn es weiter so geht, kannst du ja vor der Zeit tot sein.«
Tom seufzte.
»Das fürchte ich. Diese Dinge gehen so langsam.«
Wieder seufzte er. Sie bemerkte den geduldigen, müden Ausdruck in seinem Gesicht, die gebeugten Schultern, die abgearbeiteten Hände, und ihr erschien das alles als ein Symbol der Sinnlosigkeit seines sozialen Glaubensbekenntnisses.
*
Es begann ganz ruhig, wie verhängnisvolle unerwartete Ereignisse so oft beginnen. Kinder jeden Alters und jeder Größe spielten auf der Straße, und Saxon stand am offenen Fenster und sah ihrem Spiel zu, während sie von dem Kind träumte, das bald kommen sollte. Der Sonnenschein wich friedlich dem Abend, und eine leichte Brise von der Bucht kühlte die Luft und verlieh ihr einen salzigen Geschmack. Da zeigte eines der Kinder die Straße hinauf. Alle Kinder hörten auf zu spielen. Es sammelten sich Gruppen, die größeren Knaben von zehn bis zwölf für sich, während die älteren Mädchen besorgt die kleinen Kinder an die Hand oder auf den Arm nahmen.
Saxon konnte die Ursache all dieser Aufregung nicht sehen, aber sie konnte sie erraten, da sie die größeren Knaben zu den Rinnsteinen eilen und Steine auflesen sah, worauf sie sich in die Gänge zwischen den Häusern schlichen. Die kleineren Knaben versuchten, es ihnen nachzumachen. Die Mädchen, die eifrig die ganz Kleinen fortschleppten, rissen Gartenpforten auf und eilten die Stufen zu den kleinen Häusern hinauf. Die Türen schlugen hinter ihnen zu, und bald war die Straße öde und verlassen, wenn auch hier und da eine Gardine sich hob, um besorgte Frauen hinaussehen zu lassen. Saxon hörte den Zug, der schnaufend und rauchend zum Zentre-Street-Bahnhof hinausfuhr. Dann ertönte aus der Siebten Straße das heisere Gebrüll vieler tiefer Männerstimmen. Sie konnte immer noch nichts sehen, und sie dachte an Mercedes Higgins’ Worte: »Sie sind wie Hunde, die sich um einen Knochen schlagen. Nur dass ihr Knochen Arbeit heißt.«
Das Gebrüll näherte sich, und als Saxon sich aus dem Fenster lehnte, sah sie ein Dutzend Streikbrecher, die von ebenso vielen Detektiven und Schutzleuten eskortiert wurden, auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig angewandert kommen. Sie gingen in geschlossenem Trupp wie eine disziplinierte Streitmacht, während hinter ihnen, heulend und durcheinander, neunzig bis hundert streikende Eisenbahner gingen, die sich hin und wieder bückten und Steine aufhoben. Saxon fühlte, dass sie vor Angst zitterte, aber sie zwang sich, ruhig zu sein. Es half ihr auch etwas, als sie Mercedes Higgins sah. Die alte Frau öffnete die Haustür, zog einen Stuhl heraus und setzte sich ruhig auf den kleinen Treppenabsatz.
Die Polizei war mit Knüppeln bewaffnet. Die Detektive ließen keine Waffen sehen. Die Streikenden, die von hinten nachdrängten, schienen sich damit begnügen zu wollen, ihrer Wut in lautem Geheul und in Drohungen Luft zu machen, und es waren die Kinder, die den eigentlichen Anstoß zu der Schlägerei gaben. Aus dem Gang zwischen den beiden gegenüberliegenden Häusern, wo die Familien Olsen und Isham wohnten, kam plötzlich ein Regen von Steinen. Die meisten Steine flogen vorbei, aber einer traf einen Streikbrecher am Kopf. Der Mann befand sich nicht mehr als zwanzig Fuß von Saxon entfernt. Er taumelte gegen ihren Zaun und zog einen Revolver. Mit der einen Hand strich er sich über die Augen, die von Blut halb geblendet waren, und mit der anderen feuerte er seine Waffe gegen das Ishamsche Haus ab. Einer der Detektive packte ihn am Arm, um ihn zu verhindern, den Revolver wieder abzufeuern, und schleppte ihn mit sich fort. Im selben Augenblick aber ertönte ein noch wilderes Gebrüll von den Streikenden, während ein Schauer von Steinen aus dem Gang zwischen Saxons und Maggie Donahues Haus kam. Die Streikbrecher und ihre Beschützer machten halt und entsicherten ihre Revolver. An dem harten, willensstarken Ausdruck in ihren Gesichtern konnte Saxon sehen, dass Blutvergießen und Tod bevorstanden. Ein älterer Mann, offenbar ihr Anführer, nahm seinen weichen schwarzen Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Glatze. Er war ein großer dickbäuchiger Mann, der merkwürdig hilflos aussah. Er ließ die Schultern hängen, und Saxon bemerkte die Schuppen auf seinem Rockkragen.
Einer der Männer zeigte auf die Straße, und mehrere von seinen Kameraden lachten. Es war der kleine, kaum vierjährige Olsen, der der Mutter weggelaufen war und jetzt zu den Männern kam, die die Feinde seiner wirtschaftlichen Existenz waren. In seiner rechten Hand hielt er einen Stein, so schwer, dass er ihn kaum heben konnte. Die schwache Kinderhand drohte ihnen mit diesem Stein; das kleine rotwangige Gesicht war von Wut verzerrt, und er schrie immer wieder: »Verfluchte Streikbrecher! Verfluchte Streikbrecher!« Das Lachen, mit dem die Männer ihn begrüßten, machte ihn noch wütender. Er wankte auf sie zu und warf mit einer mächtigen Kraftanspannung den Stein, der kaum sechs Fuß von ihm zu Boden fiel.
So viel sah Saxon, und sie sah auch, wie die Mutter des Knaben auf die Straße eilte, um ihr Kind zu holen. Da ertönte eine Salve von Pistolenschüssen der Streikenden, und Saxons Aufmerksamkeit wandte sich den Männern vor ihrem Fenster zu. Einer von ihnen stieß einen mächtigen Fluch aus und untersuchte seinen linken Arm, der kraftlos herabhing. Sie sah, wie das Blut über seine Hand tropfte. Sie wusste, dass sie nicht stehenbleiben durfte, aber die Erinnerung an ihre kämpfenden Vorfahren erwachte in ihr, und sie fürchtete sich nicht mehr, als jeder normale Mensch sich unter solchen Verhältnissen gefürchtet hätte – eher weniger. Sie vergaß über diesem Kampf, der so plötzlich in ihrer stillen Straße losgebrochen war, ihr Kind. Sie vergaß die Streikenden und alles andere über ihrem Erstaunen darüber, wie es dem dickbäuchigen, zigarrenrauchenden Anführer ergangen war. Auf irgendeine merkwürdige Weise war sein Kopf in ihrem Zaun eingeklemmt. Sein Körper hing draußen, und die Knie berührten den Boden nicht ganz. Der Hut war ihm abgefallen, und die Sonne schien auf seine Glatze und erzeugte eine kräftige Lichtwirkung. Die Zigarre war auch verschwunden. Sie sah, dass sein Blick auf sie gerichtet war. Es war, als winkte er ihr mit der Hand, die durch den Zaun stak, und es sah fast aus, als blinzelte er ihr gemütlich zu, obwohl sie wusste, dass es der furchtbarste Schmerz war, der sein Gesicht zu einem Grinsen verzerrte.
Eine Sekunde, vielleicht zwei, starrte sie ihn an, dann aber wurde sie durch den Klang von Berts Stimme aus ihren Betrachtungen gerissen. Er kam, gefolgt von mehreren anderen Streikenden, auf dem Bürgersteig vor ihrem Hause gelaufen, und rief aus voller Kehle: »Vorwärts, Mohikaner! Jetzt haben wir sie an den