Joachim Ringelnatz

Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band)


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Land geraten war, denn Du weißt, es gibt keine neutrale Schweiz, sondern eine deutsche und eine französische Schweiz, ein deutsches Dänemark und ein feindliches. Verlegen blätterte ich kurze Zeit in einem der Nachschlagewerke, dann stahl ich mich davon.

      Kleinlaut, verstimmt, fuhr ich mit der »Schokoladen«-Bahn nach dem Bois, wo mir ein zweites, ebenso nachgehendes Erlebnis begegnete.

      Ich erkor mir eine Bank unter Bäumen. Vor mir auf einer Wiese trieben flämische und französische Kinder ein drolliges Wesen. Sie spielten »Hund«, auf allen vieren durchs Gras hüpfend und bellend. Dann wollte jedes der Beschnüffelte und keines der beschnüffelnde Teil sein, daß ich ob solcher naiven Belustigung abwechselnd gerührt war und wieder hell auflachen mußte.

      Da kam Mignon hinzu. Mignon, sorglos, weiß und wehend im Glockenrock und in zierlichen Lackstiefelchen mit ganz hohen, schlanken Absätzen – schlug, mein goldenes Vließ anstaunend, die Hände überm Kopf zusammen und rief in allerliebst heiterer Zutraulichkeit: »Ah, comme un domestique du prince!«

      Ich dankte mit heiklem Lächeln. Sie nahm an meiner Seite Platz; und wir plauderten mitsammen artig, auch nicht ganz töricht. Indes blieb ich mit Blicken und Gedanken doch mehr bei meinen Kindern, was die ungeduldig werdende Modepuppe schließlich zu einem näherbringenden Witzwort benutzte. »Dies«, erwiderte ich, auf die kleinen Spieler deutend, »ist eine Welt für sich, ist ebenfalls ein neutrales Gebiet.«

      Mein Französisch geht auf Erbsen. Mignon verstand nicht recht. »Deutsch oder Belgisch, mir gilt beides gleichviel«, beteuerte sie. Mignon mochte gern ins Café Mocca geführt sein, jedoch ich vertröstete sie auf ein andermal, erfrug deswegen ihre Adresse. »Ihr paßt Euch nur an!« sagte ich bei einem Händedruck zum Abschied. »Ihr seid nicht abseits, wie dieses Kinderland, an dessen Ufern die Kriegswoge umkehrt.« –

      Liebling, schilt oder spotte; vielleicht kuriert's mich. Denn ich bin krank. Die Zeitung, die Tagesgespräche der Kameraden, alles, was den Krieg betrifft, ekelt mich an.

      Ich werde einsam nachher wieder in den Park flüchten, dort ist es doch noch am erträglichsten.

      In der Jugend dünkt uns das Heimatland zu eng; später wird es uns Genuß, durch schöne Anlagen zu wandeln, und das Alter bescheidet sich gar dankbar mit einem grünen Eckchen. So macht uns die Zeit genügsam. Denke an Großmuttern, die sich im Rollstuhl allabendlich ans Fenster fahren ließ, wie sich die Alte den ganzen Tag über auf diese eine Stunde Sonne freute!

      Weißt Du, was ich mir innigst wünsche, mir öfters während des Dienstes oder in wachen Nächten sehnsüchtig ausmale? Ich möchte wieder einmal in einem Dorfgarten, wo allerlei bunte Blumen mit Kraut und Rüben durcheinander leben, bei gutem, starken Bohnenkaffee und richtigen Buttersemmeln mit Dir ...

      – – – –

      Bis hierher hatte ich mittags geschrieben. Der Kompanieführer ließ mich rufen. Er ist doch ein Prachtmensch! Das mit dem Untertauchen wird nix, aber er sagte, er hätte eine andere dicke Sache für mich (»obwohl Sie's nicht verdienen«). Soll mich noch heute klarmachen. Tausend eilige Grüße! Morgen an Bord! Hurra!!

      Lichter im Schnee

       Inhaltsverzeichnis

      »Spuren des russischen Rückzugs«, sagte Keltermann und stieß einen morschen Sattel wie einen Fußball vom Boden empor.

      Unauffällig in ihrem Feldgrau zogen die acht dahin. Der Boden, bald Moos, bald Heide oder Nadelwaldgrund und wieder Sumpfwiese, bog sich teppichweich und leise. Nur das ausgedörrte, rostbraune Gezweig, das, durch die Axt oder durch Geschosse vom Stamm geschlagen, allenthalben umherlag, knisterte und knackte unter den benagelten Stiefeln, und wo die Sonne die Karabiner traf, blitzte stechend der Stahl auf.

      »Sechzehn Kilometer vor den äußersten Stellungen.«

      Die kleinen, jämmerlich abgemagerten Russengäule vor einer passierenden Gulaschkanone wurden belacht; nur Leibgeris sprach ernst mit seiner Grabesstimme eine neue Kriegsbeobachtung aus, auf die ihn das Quietschen der Räder brachte: »Auch an Schmiere mangelt's.«

      Sie blickten die vereinzelten Infanteristen, Jäger oder Artilleristen, die ihnen begegneten, unternehmungsstolz und ebenso wissensdurstig an, wie sie selber als Mariner in dieser Gegend betrachtet wurden. Aber jedesmal glitten, wenn solch ein Tschaßki auftauchte, die Karabiner von den Schultern. Denn ob diese acht Männer sich auch auf deutschem – deutsch besetztem Gebiet befanden, so deuchte ihnen doch Vorsicht geboten. Märsche durch unbekanntes Terrain unmittelber hinter der Kampflinie waren ihnen etwas Neuartiges.

      Das Neuartige speiste ihre Phantasie, ihr verwegenes Wohlbehagen und ihre Furcht, obwohl das keiner dem anderen eingestand; äußerlich, in Sprache und Miene, wahrten sie eine gewisse eingeführte Verkehrsform, die schlapp und unehrlich war.

      Als zwei Reiter sich näherten, wie sich ergab: ein Major mit seinem Burschen, lief ihnen Bootsmaat Olyphant entgegen und meldete stramm dem Offizier:

      »Zwei Unteroffiziere und sechs Mann vom Sonderkommando 213 der zwoten Matrosendivision auf dem Wege nach Goflaz.«

      »Marine hier? Was wollt ihr den in Goflaz?«

      »Quartiere suchen.«

      »Und was hat Ihr Kommando vor?«

      »Darüber darf ich nicht reden, Herr Major.«

      Der Offizier machte eine unwillige Geste, fand indessen die Antwort korrekt und trabte dankend weiter.

      Abermals ließen sich Kanonenschläge von weit her vernehmen, dann minutenlang ein Geräusch, wie es ähnlich ein Spaziergänger erzeugt, der seinen Stecken an einem Gartenzaun streifen läßt.

      »Das sin russ'sche Maschinengewähre, unsre deitschen dack'n viel schneller.«

      »Ach, Schnack! Du hast gar keinen Savi von solchen Sachen.«

      »Villeichd mehr als du, griener Regrud. Du bisd ja noch nich mal droggen hinder de Ohren.«

      »Leicht möglich, weil ich mich öfters wasche, während gewisse andere Leute seit – – –«

      »Was du so waschen nennst: in de Lufd geschbuggd und drunder weggesausd –«

      Die Kameraden nahmen durch Gelächter oder hämische Glossen Partei. Inzwischen war auch unter den beiden vorausschreitenden Unteroffizieren Hader ausgebrochen. Obermaat Glomsda behauptete, ihm, als dem Dienstälteren, hätte die Meldung an den Major zugestanden. Berthold Olyphant hingegen berief sich darauf, daß er aktiv sei und daß der Kapitän ihn als Transportführer bestimmt, solches auch nicht widerrufen habe, als noch im letzten Augenblick der Obermaat zu der Gruppe hinzukam. Der unerquickliche Streit grub allerlei kleinlichste Nebensachen und Vorwürfe aus.

      Ein breites Rauschen schlich sich in die Ohren ein. »Die See«, sagte Glomsda, »wir wollen dem Strande folgen, es ist der sicherste und der hellere Weg.«

      In der Tat beugte sich Olyphant doch meist der größeren Erfahrung und der nüchternen Entschlußfertigkeit des Obermaaten.

      Das Gelände ward zunehmend sandiger und damit anstrengender. Wagenräder und abscheulich unsaubere Kleidungsstücke lagen am Wege – auch ein abgenutzter Kinderschuh und (der Tsingtauschorsch griff es auf, alle bestaunten das an sich unscheinbare, ausgezackte Eisenstück) ein Granatsplitter. »Wer das in de Fresse grichd, der gann sich nachher de Visasche mid d'r Debbichsauchmaschine zusammsuchen.«

      Ein Pionier schloß sich ihnen an, der einen Postsack nach einem Unterstand bringen sollte. Sie frugen ihn aus, heiß neugierig, und er gab wichtig Auskunft, mit Erfundenem flickend, wenn seine Kenntnisse aussetzten. »Noch sechs Kilometer bis Goflaz ... dort liegen Dragoner, Artillerie ... fünfzehn Zentimeter und zwanzigeinhalb ... jeden Abend funken die Russen, aber an ein Vorwärtskommen durch den Sumpf ist vorläufig beiderseits nicht zu denken ... Spione erschossen ... Nein, diese Post ist für Pioniere ...«

      »Ein Sack voll Speck und Tränen aus aller