»Ich möchte Ihre Tochter nicht zu sehr erschrecken«, sagte er leise, »Wir werden deshalb nicht weiter über die Sache sprechen, wenn sie kommt.«
Als Stella gleich darauf wieder in das Zimmer trat, fand sie ihren Vater lammfromm, bescheiden und ruhig. Kenneth Nelson empfand nun doch eine gewisse Furcht und konnte sich davon nicht so schnell erholen.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich zu Bett gehe, Stella. Ich habe mich schon während der letzten Tage nicht wohl gefühlt.« Andy amüsierte sich über ihn, aber er ließ sich nichts merken. Er ging zur Tür und wartete dort, bis Stella einen kleinen Schal umgelegt hatte. Er war aus schwarzer Seide und trug in einer Ecke ein roteingesticktes Monogramm. Alles an ihr interessierte ihn in hohem Maße. Als sie miteinander zum Gartentor gingen, erzählte er ihr, was er mit ihrem Vater besprochen hatte.
»Ich weiß sehr wohl, daß er nicht an Kreislaufstörungen leidet, aber ich werde Doktor Granitt besuchen. Ich kenne seinen Sohn sehr gut – wir waren zusammen auf der Universität. Wir können uns ja irgendeine komplizierte Krankheit ausdenken, die Ihrem Vater das Trinken zum mindesten auf eine längere Zeit verleidet.«
»Ja, vielleicht ist das möglich«, sagte sie unsicher.
»Sie haben keine Hoffnung mehr?«
»Mit der Zeit verliert man sie.«
»Ich möchte Ihnen darauf etwas erwidern. In London gibt es Taxis, die einem gewissen Stadmere gehören. Diese Stadmere-Wagen sind die besten ihrer Art. Ich habe mir angewöhnt, wenn ich nicht gerade in der größten Eile bin, auf ein solches zu warten. Dabei ist mir aufgefallen, daß sofort ein Stadmere-Taxi auftaucht, wenn man sich fest entschließt, ein solches zu nehmen.«
»Das ist ein Gleichnis.« Sie lächelte. »Aber ich warte auf etwas, das mehr ist als ein Stadmere-Taxi – ich warte auf ein Wunder.«
»Ich habe sogar erlebt, daß Wunder geschehen, und es lohnt sich wirklich, auf sie zu warten. Wenn man jung ist, verrinnen die Tage schnell, und die Jahre erscheinen wie Ewigkeiten, so daß man ungeduldig wird.«
»Sie sprechen wie ein alter Mann«, versuchte sie zu scherzen, obwohl ihr nicht danach zumute war.
»Das mag stimmen. Zwar, werde ich auch noch manchmal ungeduldig, aber ich habe das Warten gelernt!«
Er hielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen. Sie sah ihm nach, als er über den Rasen davonschritt, bis seine Gestalt immer undeutlicher wurde und im Tor des Gästehauses verschwand.
8
Tage vergingen. Andy beschloß, noch eine weitere Woche zu bleiben. Er suchte Dr. Granitt auf und beriet mit ihm. Der Dorfarzt besuchte Nelson auch, und obwohl er keine Kreislaufstörungen feststellen konnte, ließ er seinen Patienten doch mit dem Eindruck zurück, daß er eine ganze Anzahl böser Leiden habe.
Andy hatte Stella nur einmal aus der Entfernung wiedergesehen. Sein Urlaub näherte sich nun seinem Ende, und es wäre wirklich ratsam gewesen, wenigstens die letzte Woche noch mit Fischen und Angeln zu verbringen, wie er es ursprünglich geplant hatte. Aber sein Zimmer im Gästehaus war wirklich schön, der Golfplatz ausgezeichnet, und es war eigentlich kein Grund vorhanden, warum er nun gerade fischen sollte.
Am Sonntag ging er sogar zur Kirche. Das geschah etwas plötzlich, denn er hatte noch im Pyjama gesessen, als er Stella Nelson mit ihrem Gesangbuch vorbeigehen sah. Zehn Minuten nach ihr betrat auch er das Gotteshaus und ließ sich auf einer Bank nieder, von der aus er sie gut von der Seite sehen konnte. Nach Schluß des Gottesdienstes wartete er auf sie, und sie gingen zusammen nach Beverley Green zurück.
»Ich habe gehört, daß Sie uns morgen verlassen wollen?« fragte Stella.
»Ich hatte ursprünglich die Absicht, morgen abzureisen, aber wahrscheinlich werde ich noch einige Tage hierbleiben, wenn man mich nicht aus dem Gästehaus hinauswirft.«
»Bei uns wird niemand hinausgeworfen, außer von der Polizei«, sagte sie ein wenig boshaft. Er lachte.
Als sie über die Straße gingen, kam ihnen ein Mann entgegen. Er wandte sich plötzlich um und verschwand in einer Seitenstraße.
»Es sieht so aus, als ob Mr. Sweeny mir nicht begegnen möchte«, meinte sie lächelnd.
»Ich hatte denselben Eindruck. Wer ist eigentlich dieser Mr. Sweeny?«
»Er war früher bei Mr. Merrivan als Hausmeister angestellt, aber ich glaube, er mußte die Stelle unter ein wenig sonderbaren Umständen verlassen. Er ist sehr schlecht auf Mr. Merrivan zu sprechen.«
Sie war erstaunt, denn sie hatte Sweeny nicht zugetraut, daß er ihr so taktvoll aus dem Wege gehen würde, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen und sie an ihre letzte Begegnung zu erinnern.
Gleich darauf trafen sie Mr. Merrivan, von dem sie eine Erklärung über Mr. Sweenys Besuch erhielten. Er trat zu ihnen, als sie gerade an der Gartentür des Nelsonschen Hauses standen.
»Guten Morgen, Miss Nelson!« sagte er freundlich. »Haben Sie auch diesen niederträchtigen Sweeny getroffen? Dieser gemeine Kerl! Ich hätte nicht gedacht, daß er die Frechheit besitzt, sich in Beverley Green zu zeigen. Ich faßte den Menschen doch ab, als er bei meinem Haus herumspionierte – vielmehr mein Gärtner hat ihn gesehen. Wenn ich nun wie gewöhnlich zur Kirche gegangen wäre, hätte ich wahrscheinlich überhaupt nicht erfahren, daß er hier war. Diese Dienstboten stecken doch alle unter einer Decke.«
Andy wunderte sich, daß es ein so großes Verbrechen war, Mr. Merrivans Grundstück zu betrachten. Aber der redselige Mann erzählte ihm, daß Sweeny ein Loch in die Hecke gemacht habe, um hindurchzuspähen, und daß sein wachsamer Gärtner ihn gerade in diesem Augenblick entdeckt hatte.
An diesem Tage ereignete sich nichts Besonderes. Das Schicksal, das drohend über Beverley Green hing und es weithin bekannt machen sollte, brach erst in der Nacht herein.
Stella saß in der Halle und las. Sie war gerade bei ihrem Vater oben gewesen, um ihn für die Nacht zu versorgen, denn Mr. Nelson hatte den Rat der Ärzte gewissenhaft befolgt und sein Zimmer nicht verlassen, seitdem Andy ihn gewarnt hatte.
Sie blätterte gerade eine Seite um, als sie ein leises Klopfen am Fenster hörte. Einen Augenblick lauschte sie, da sie glaubte, sich getäuscht zu haben. Vielleicht tropfte der Wasserhahn in der Küche. Aber dann vernahm sie wieder deutlich dasselbe Geräusch, legte das Buch nieder und stand auf. Sie war keineswegs ängstlich, denn Artur Wilmot hatte sich früher häufig auf diese Weise bemerkbar gemacht.
Sie zog den Vorhang beiseite und schaute in den Garten hinaus, konnte aber nichts sehen. Düstere Wolken waren schon am Nachmittag von Südwesten heraufgezogen, und der Mond war nicht zu sehen. Sie ging zur Haustür und wollte eben öffnen, als sie einen Brief auf dem Boden liegen sah. Er mußte unter der Tür durchgeschoben worden sein. Es stand keine Adresse auf dem Umschlag, und nachdem sie einen Augenblick gezögert hatte, riß sie ihn auf. Es war ein vier Seiten langes Schreiben. Zuerst dachte sie, der Brief käme von Artur. Sie hatte in den letzten Tagen noch verschiedene Briefe von ihm erhalten, aber sie hatte sie ungelesen vernichtet.
Sie las die Unterschrift, hielt einen Augenblick bestürzt inne, begann dann aber doch zu lesen. Je weiter sie kam, desto größerer Schreck ergriff sie. Sie ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Sie las weiter. Jeder Satz traf sie wie ein Dolchstoß. Voller Zorn warf sie das Schreiben ins Feuer. Dann öffnete sie die Schublade eines Schrankes und nahm einen kleinen Revolver heraus, der ihrem Vater gehörte. Vor langer Zeit hatte sie die Waffe einmal weggeschlossen, als sie sich noch von den Drohungen einschüchtern ließ, die er in seiner Trunkenheit ausstieß. Sie zog auch eine kleine grüne Pappschachtel hervor, die mit Patronen gefüllt war. Mit einem Staubtuch reinigte sie den Revolver, öffnete ihn und lud ihn mit drei Patronen. Dann ging sie in ihr Zimmer, zog einen dunklen, weiten Mantel an und steckte die Waffe in die Tasche.
Als