Es stand außer jedem Zweifel: In einer Ecke sah er das roteingestickte Monogramm S. N. Das Tuch war etwas eingerissen. Er roch daran, da er wußte, daß sie ein zartes, unaufdringliches Parfüm benützte. Er konnte sich deutlich an den Duft erinnern. Ja, das Tuch gehörte Stella. Er faltete es so klein als möglich zusammen und steckte es in die Tasche. Mit Entsetzen kam ihm zum Bewußtsein, daß alle seine Anhaltspunkte Stella Nelson belasteten.
Und doch zweifelte er im Grunde nicht an ihr. Nicht ihre Schönheit und ihre Jugend überzeugten ihn, daß sie diese Tat unmöglich begangen haben konnte. Eine innere Stimme sagte es ihm. Vielleicht war auch er wie Scottie hellsichtig geworden. Er lächelte bei dem Gedanken. Aber plötzlich wurde ihm klar, daß ihn dieser schreckliche Druck nicht mehr quälte, der ihn die ganze Zeit verfolgt hatte. Hatte ihn der beginnende Tag davon befreit?
Der Polizeiinspektor kam mit dem Hausmeister zurück, und um seinen Auftrag zu rechtfertigen, fragte Andy den erregten Mann, ob er den Toten wiedererkenne.
»Jawohl, Sir, das ist Sweeny, den Mr. Merrivan heute morgen hier auf dem Grundstück traf – nein, es war gestern morgen.«
Andy hatte den kleinen Vorfall vergessen. Dieser Sweeny hatte Merrivan gehaßt. Vielleicht gab es auch noch einen anderen Grund für seine Feindschaft außer dem Widerwillen, den ein Dienstbote gegen einen Herrn empfindet, der ihn beim Diebstahl ertappt hat.
Als sie in das Haus zurückgegangen waren, gab er weitere Anweisungen.
»Niemand darf hereingelassen werden – den Zeitungsberichterstattern darf nur die Tatsache mitgeteilt werden, daß Mr. Merrivan etwa in der Zeit zwischen Mitternacht und ein Uhr ermordet wurde. Die Lage der Leiche kann den Leuten anhand einer Skizze erklärt werden, aber niemand darf das Zimmer betreten, in dem sich der Mord ereignete. Motiv der Tat: Raub. Über den Mann im Obstgarten mögen sie sich ihre eigenen Theorien bilden.«
Er war den Weg zum Gartentor schon halb hinuntergegangen, als Artur Wilmot plötzlich hereinstürmte. Sein Pyjama war unter dem Mantel zu sehen. Er war sehr bleich.
»Mr. Macleod, ist das wahr – mein Onkel? Großer Gott, das ist doch unmöglich!«
»Ich bin froh, Sie zu sehen«, sagte Andy langsam. »Ja, es ist leider wahr. Ihr Onkel ist tot – er ist erschossen worden!«
»Ermordet?«
Artur flüsterte dieses Wort gespannt, und Andy nickte.
»Aber er hatte doch keine Feinde –«
»Wenige Menschen werden ermordet, weil sie Feinde haben. Der einzige, der drohte, Mr. Merrivan umzubringen, waren Sie!«
Wilmot taumelte zurück, als ob er einen Schlag erhalten hätte.
»Ich?« stammelte er. »Ich soll…? Niemals!«
»Mr. Merrivan war schon tot, als er aufgefunden wurde, er konnte nichts mehr aussagen. Mr. Wilmot, antworten Sie mir jetzt nicht übereilt, sondern denken Sie nach. Sie brauchen meine Frage auch überhaupt nicht zu beantworten, wenn Sie nicht wollen. Hatten Sie einen Streit mit Darius Merrivan?«
Der junge Mann war so betroffen, daß ihm die Stimme versagte. Er schüttelte nur den Kopf und starrte den Detektiv entsetzt an.
»Ich will Ihnen sagen, daß ich vor einer Woche hier vor dem Haus stand und Sie sagen hörte: ›Eher will ich dich umbringen!‹«
Jetzt fand Wilmot seine Sprache wieder.
»Da muß jemand Lügen über mich verbreitet haben«, rief er erregt. »Ich kann Ihnen aber auch einige Dinge erzählen. Ich habe mit ihm gestritten – ja! Wegen eines Mädchens, das keinen Pfifferling wert ist! So, nun wissen Sie es! Er sagte damals, er wolle sie heiraten – und dabei war er schon verheiratet! Er hatte keine Ahnung, daß ich das wußte, ich erzählte es ihm niemals. Seine Frau ist ihm davongelaufen. Er hat sich aber nie von ihr scheiden lassen. Er muß irgendeinen Grund dafür gehabt haben. Und als er mir nun sagte, daß er das Mädchen heiraten wollte –«
»Brüllen Sie nicht so!« erwiderte Andy scharf. »Ich bin nicht taub. Außerdem interessieren mich Ihre Familienstreitigkeiten nicht besonders. Ich bin ziemlich sicher, daß Sie nichts mit dem Mord selbst zu tun haben, obwohl Sie –« er machte eine Pause, um seinen nächsten Worten mehr Nachdruck zu geben, »der Erbe des Verstorbenen sind und durch seinen Tod nur Gewinn haben, wenn Sie nicht beweisen wollen«, fügte er hinzu und sah Wilmot durchdringend an, »daß seine Frau noch am Leben ist. In dem Fall erbt seine Frau das Vermögen. Vielleicht aber existiert ein Testament.«
»Soviel ich weiß, hat er kein Testament gemacht«, sagte Wilmot leiser und ruhiger. »Es tut mir leid, daß ich mich so weit vergessen habe, Macleod. Aber die Sache hat mich entsetzlich mitgenommen – Sie werden das verstehen.«
Andy nickte schweigend.
Er ging mit Artur Wilmot zur Gartenpforte zurück und beobachtete ihn, bis er in seinem Haus verschwunden war. Der Mann wollte jemand anklagen – das Mädchen, ›das keinen Pfifferling wert war‹. Er dachte darüber nach. Hatten die beiden, die man in Beverley Green bereits als Verlobte betrachtete, miteinander gestritten? Wie sehr mußte Stella Wilmots Eitelkeit verletzt haben, daß er sich zu solchen Worten hinreißen ließ! Andy hatte diese Schwäche in dem Charakter des jungen Mannes bald erkannt. Langsam ging Andy den breiten Fahrweg entlang. Sollte er zu ihr gehen? Er schaute auf die Uhr. Es war sechs, sie würde noch nicht wach sein. Unentschlossen sah er zu der ruhig daliegenden Villa hinüber. Die Jalousien waren heruntergelassen. Aber plötzlich erinnerte er sich daran, daß sie gesagt hatte, sie müßte um sechs Uhr aufstehen, wenn sie keine Dienstboten habe. Trotzdem zögerte er noch. Aber wenn sie wach war, hörte sie ihn ja, und wenn sie noch schlief, schadete sein Klopfen auf keinen Fall. Er ging zur Haustür und klopfte. Gleich darauf öffnete sie sich.
10
Stella war totenblaß, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Aber ein noch untrüglicherer Beweis ihrer Schuld lag für Andy darin, daß ihr ganzes Aussehen darauf schließen ließ, daß sie die letzte Nacht überhaupt nicht zu Bett gegangen war, sie trug noch dieselbe Kleidung wie am Tag vorher.
Stella trat in die Halle zurück, wo Licht brannte. Die Vorhänge waren noch nicht aufgezogen.
»Ich habe Sie erwartet«, sagte sie fast teilnahmslos. »Wollen Sie mir bitte gestatten, daß ich es meinem Vater sage, bevor Sie mich fortbringen?«
Er war wie vom Blitz getroffen.
»Bevor ich … Sie … fortbringe?« wiederholte er.
»Ich wußte, daß Sie kommen würden … ich habe die ganze Nacht auf Sie gewartet, Mr. Macleod.« Sie sah, wie angegriffen er war, und senkte den Kopf. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, »ich war von Sinnen … ich war wahnsinnig.«
Plötzlich riß er sich zusammen. Mit zwei Schritten stand er vor ihr und packte sie an den Schultern.
»Sie armes, dummes Kind – Sie armes, dummes Kind!« sagte er schweratmend. »O Gott, was haben Sie getan!«
Er zog den Schal aus der Tasche und warf ihn auf den Tisch, den Ring legte er dazu.
»Mein Schal – mein Ring« Ach, ich besinne mich.«
Es wurde ihm schwer zu sprechen, sein Herz schlug wild.
»Ach, Stella, auch ich bin von Sinnen. Aber ich kann es nicht … ich kann Sie nicht in dieser Hölle lassen. Ich liebe Sie … mir scheint es selbst ganz unglaublich … ich werde meinen Wagen in einer Viertelstunde bereithalten und Sie wegbringen, bevor nur der Schatten eines Verdachtes auf Sie gefallen ist. Ich weiß, daß es Wahnsinn ist, aber ich kann es nicht mit ansehen, daß Sie –«
Sie schaute ihn verwirrt an, und Tränen schimmerten in ihren Augen: »Ach, Doktor, Sie sind zu gut … aber das geht nicht. Mr. Merrivan weiß doch alles