verstand nicht.
»Merrivan ist tot – er ist in der Nacht ermordet worden!«
»Ermordet?«
Eine Zentnerlast fiel ihm vom Herzen, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ach, ich muß wirklich verrückt gewesen sein, daß ich auch nur daran denken konnte, Sie hätten etwas damit zu tun.«
Er sprang plötzlich zu ihr und stützte sie, als sie taumelte.
Als sie das Bewußtsein wiedererlangte, war ihr erster Gedanke, daß er sie für eine Mörderin gehalten hatte und sie trotzdem retten wollte. Mr. Merrivan war tot! Das war schrecklich. Der Verdacht mußte ja auf sie fallen, aber er hielt sie nicht für schuldig, dieser Mann mit den grauen Augen, der sie so forschend angesehen und den sie so bitter gehaßt hatte!
»Ich kann meine Gedanken nicht sammeln«, sagte sie schwach, und. das Glas, das er ihr reichte, stieß an ihre zitternden Lippen.
Sie schaute ihm in die Augen, als sie trank, und er las in ihrem Blick die gläubige Zuversicht eines Kindes.
»Sie sind so gut zu mir«, flüsterte sie, »und Sie lieben mich trotz allem«, sagte sie unvermittelt. »Es ist entsetzlich, daß Mr. Merrivan tot ist. Ich war gestern bei ihm. Er schickte mir einen Brief, daß er mich sprechen wolle, und ich ging hin, weil ich etwas von ihm brauchte.«
»Was war es, Stella?« fragte er liebevoll.
»Das werde ich Ihnen nie sagen können, selbst wenn ich sterben sollte, Doktor – Andrew. Ich habe Sie so sehr gehaßt – und Sie sind so gut zu mir.«
Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und stützte ihren braunen Lockenkopf. Während sie sprach, spielte sie mit seinen Fingern.
»Und was geschah dann?«
»Ach, er benahm sich so fürchterlich, es war grauenvoll. Ich mußte es ertragen, daß er mich mit seinen dicken Händen anfaßte« – er fühlte, wie ein Schauder ihren Körper durchrann – »und mich küßte. Dann zeigte er mir die Dinge, die ich haben wollte, und sagte, ich solle meinen Ring abnehmen. Dafür steckte er mir einen großen glitzernden Brillantring an. Er gab mich einen Augenblick frei, und ich ergriff die Dinge – sie lagen noch auf dem Tisch. Er kam dicht hinter mir her, aber ich hielt ihm den Revolver entgegen.«
»Einen Revolver hatten Sie auch? Mein Gott, Stella, Sie haben aber auch alles getan, um sich in Gefahr zu bringen!«
»Vielleicht. Und dann bin ich geflohen –«
»Auf welchem Weg?«
»Durch die Haustür – ich kenne keinen anderen Ausgang.«
»Sie sind nicht durch den Obstgarten gegangen?«
»Nein, warum?«
»Erzählen Sie weiter – Sie gingen direkt nach Hause – wieviel Uhr war es?«
»Elf. Die Beverley-Kirchenuhr schlug gerade, als ich die Haustür öffnete.«
»Warum waren Sie zu ihm gegangen?«
»Er hatte mir einen Brief geschrieben – einen schrecklichen Brief –, er hatte mir alles mit nackten, dürren Worten gesagt und mich vor die Wahl gestellt. Ich habe die Dinge verbrannt, die ich mitnahm. Und dann wartete ich, daß Sie mich verhaften würden. Zuerst wünschte ich, daß nicht Sie kämen, aber später dachte ich, Sie würden nicht so rauh sein wie Inspektor Dane, und als ich sah, daß Sie kamen, hatte ich nur noch den einen Wunsch, daß alles möglichst bald vorüber sein möchte.«
»Hat Sie irgend jemand gesehen, als Sie in sein Haus gingen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Glauben Sie, daß – Wilmot Sie bemerkte?«
»Arthur Wilmot – nein. Warum fragen Sie?«
»Er machte so dunkle Andeutungen. Waren die Gegenstände, die Sie verbrannten, irgendwelche Schriftstücke?«
Sie nickte.
»Wo haben Sie die Dokumente verbrannt – hier oder bei Merrivan?«
»Hier.« Sie zeigte auf den Kamin. »Hier habe ich auch seinen Brief verbrannt.«
»War das der Brief, in dem er Sie aufforderte, zu ihm zu kommen?« fragte er vorwurfsvoll. »Damit hätten Sie doch alles beweisen können!«
Seine Worte machten keinen Eindruck auf sie.
»Das ist mir alles gleich – wenn nur Sie mir glauben.« Sie richtete sich mühsam auf. »Ich werde mich jetzt hinlegen – aber nein, das kann ich ja nicht, es ist niemand im Haus, der meinem Vater das Frühstück macht.«
»Sie legen sich jetzt trotzdem hin«, erwiderte Andy bestimmt. »Das Frühstück Ihres Vaters werde ich schon zurechtmachen. Ich habe gestern mit meinem Diener telefoniert, daß er kommen soll. Er kann perfekt kochen und auch die Zimmer in Ordnung halten.«
»Meinen Sie wirklich?« fragte sie zweifelnd, aber sie ließ sich doch gerne von ihm überzeugen, denn sie war todmüde.
»Ich war so froh, daß Sie kamen«, sagte sie, als er ihre Hand nahm und an seine Wange legte. »Vaters Schlafzimmer liegt im ersten Stock – nach vorn hinaus.« Dann ging sie.
Als sie verschwunden war, zog er die Vorhänge auf und öffnete die Fenster. Er hatte nicht mit seinem Diener telefoniert. Er hatte zwar einen Diener, aber wenn er daran dachte, wie er kochte, überlief ihn ein kalter Schauer. Er durchsuchte Küche und Speisekammer, machte zunächst für sich selbst etwas Tee und begann dann das Frühstück für Kenneth Nelson vorzubereiten. Er wunderte sich über sich selbst, aber noch mehr war Kenneth Nelson erstaunt.
»Welchen Tag haben wir denn heute?« fragte er, als er sich von der Überraschung erholt hatte.
»Es ist Montag«, sagte Andy und setzte das Tablett nieder. »Ich habe Ihre Tochter ins Bett geschickt.«
»Sie ist doch nicht etwa krank?« Kenneth war sehr erschrocken.
»Nein, nur müde – sie hat eine aufregende Nacht hinter sich. Merrivan ist tot. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn Sie heute aufstehen. Ein wenig Unterhaltung mit Ihren Bekannten wird Ihnen nicht schaden. Aber trinken dürfen Sie nichts.«
Nelson war durch die Neuigkeit ganz verstört.
»Was – Merrivan ist tot – wann ist er denn gestorben? Er sah doch noch so gesund aus, als ich ihn zuletzt sah.«
Andy erzählte ihm die Einzelheiten erst, als er nach unten kam. Er brachte auch das Tablett mit den Eiern und dem Tee wieder hinunter, und sie frühstückten zusammen.
»Das ist aber eine böse Geschichte – der arme Merrivan – er war ja nicht gerade mein besonderer Freund, aber –«
Andy sah, wie sein Gesicht zuckte, als ob irgendeine häßliche und lange unterdrückte Erinnerung plötzlich in ihm lebendig würde. Er kannte die Schwäche dieses Mannes, und wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er der Sache auf den Grund gegangen. Andy beobachtete ihn während des Frühstücks, wie er sich dauernd bemühte, mit sich ins reine zu kommen.
»War Stella die ganze Nacht auf?«
»Sie hat vielleicht den Schuß gehört – vielleicht haben es ihr auch die Leute erzählt. Eins der Dienstmädchen hatte einen Nervenzusammenbruch und schrie eine ganze Stunde lang. Ich wundere mich, daß in Beverley Green überhaupt jemand schlafen konnte.«
Als er fortging, machte sich Mr. Nelson zum Ausgehen fertig. Andy ging zum Gästehaus. Es war acht Uhr, und er hatte bereits sechs anstrengende Stunden hinter sich.
Inspektor Dane kam gerade aus der Tür. »Telefonische Nachricht von Scotland Yard«, berichtete er. »Alle Polizeistationen sind alarmiert worden, heute morgen noch wird ein Haftbefehl gegen Albert Selim erlassen werden. Scotland Yard möchte wissen, ob Sie eine Ahnung haben, wo er wohnt. Sein Büro hat man