Edgar Wallace

Edgar Wallace: 69 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Band


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      »Selim? Albert Selim?« fragte Scottie. »Ja, ich habe von ihm gehört, er ist Geldverleiher und, soviel ich weiß, ein ganz gefährlicher Gauner.«

      Andy bemerkte, daß sich Stellas Gesichtszüge verfinsterten.

      »Ich habe noch niemand getroffen, der ihn persönlich kannte, aber ich bin vielen Leuten begegnet, die Geld von ihm geliehen hatten.«

      »War er ein Wucherer, der die Leute, die nicht zahlen konnten, bedrohte?«

      »Bedrohte?« rief Scottie verächtlich. »Es gibt nichts, was Selim nicht getan hätte! Ein Freund von mir – ich wollte sagen, ein Mann, von dem ich gehört habe – Harry Hopson, hat ihn mit einer Summe von zweihundert Pfund hereingelegt. Harry wurde kurz darauf zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt – ich will nicht behaupten, daß Harry die Strafe nicht verdient hätte, aber Selim brachte eine schlau eingefädelte Anklage gegen ihn vor wegen einer alten Geschichte, die Harry längst vergessen hatte. Auf alle Fälle hat er seine zehn Jahre abbekommen.«

      Wenn Merrivan wirklich in so großer finanzieller Verlegenheit war, daß er sich von Selim Geld lieh, so mußten seine Schulden schon sehr hoch sein. Aber dem widersprachen andere Tatsachen. In den Geschäften war bis zum Sonnabend alles bezahlt, auf der Bank hatte Merrivan mehrere tausend Pfund, und auch sonst: konnte man keinen Anhaltspunkt dafür finden, daß er in Geldschwierigkeiten gewesen war. Wieviel Vermögen er besaß, konnte man erst sagen, wenn die Bücherrevisoren ihre Arbeit beendet hatten. Man hatte auch keine Briefschaften gefunden, denen man hätte entnehmen können, daß er Schulden bei diesem geheimnisvollen Albert Selim hatte.

      Ein Punkt war jedenfalls aufgeklärt worden – die ungewöhnlichen Schuhe, die Merrivan trug, als er starb. Er pflegte nächtliche Besuche zu machen. Aber warum zog er diese schweren Stiefel an, die doch einen höllischen Lärm machen mußten, wenn er über einen geschotterten Weg oder über einen Fußboden ging. Sicher wären Gummischuhe für diese Art von Abenteuern geeigneter gewesen. Andy überlegte sich das alles, als er zu Merrivans Haus hinüberging.

      Zwei Tage lang war der Garten von Reportern belagert gewesen. Aber jetzt war auch der letzte Journalist wieder gegangen.

      Andy hatte sich vorgenommen, das ganze Haus genau zu durchsuchen. Bis jetzt hatten sich seine Nachforschungen nur auf das Arbeitszimmer beschränkt, und er hatte sich damit begnügt, einen oberflächlichen Blick in die anderen Räume zu werfen.

      Die Durchsuchung sollte hauptsächlich auf Mr. Merrivans Schlafzimmer konzentriert werden. Es lag im ersten Geschoß nach der Straße zu, war groß, luftig und nur mit den nötigsten Möbeln ausgestattet. Eine Tür führte von hier aus in den Ankleideraum, eine andere ins Bad. Mr. Merrivan hatte alles möglichst bequem einrichten lassen. Besonders das Badezimmer war mit außerordentlichem Luxus ausgestattet, die Wände waren mit Marmor verkleidet. Im Schlafzimmer standen ein großes Bett, ein Nachttisch und ein geräumiger Schrank. Der Fußboden war zum Teil von einem viereckigen, weichen, grauen Teppich bedeckt. Außerdem waren noch eine Kommode mit großem Spiegel, ein kleinerer Tisch, ein niedriger, bequemer Sessel und zwei Stühle vorhanden.

      Andy schenkte diesmal dem Bett etwas mehr Beachtung. Es war ein solides Möbelstück, Kopf-und Fußende waren verhältnismäßig stark. Er klopfte das Kopfende ab, aber es war aus massivem Holz. Die Fuß wand war auf der Innenseite sehr schön geschnitzt. Außen war sie fast ganz glatt, nur zwei Wappen waren darauf angebracht, die von einer heraldischen Rose gekrönt waren. Er wandte die Matratzen um, klopfte eine halbe Stunde lang die Zimmerwände ab und prüfte die übrigen Möbel.

      Er war erstaunt, daß er keine weiteren Hinweise auf Albert Selim entdecken konnte. Man hatte kein einziges Schriftstück gefunden, das eine Erklärung für den Drohbrief gegeben hätte, den man bei dem Toten gefunden hatte. Albert Selim selbst blieb verschwunden. Man hatte alle Briefe, die in seinem Büro ankamen, geöffnet und den erstaunlichen Umfang seines Geschäftes feststellen können. Aber keinem der Briefe, die um ein Darlehen nachsuchten oder um Zahlungsaufschub baten, konnte man einen Anhaltspunkt entnehmen, wer Albert Selim selbst war. Der Mann war ein Wucherer schlimmster Sorte, und sein Verschwinden mußte vielen unglücklichen Leuten, die er ausgebeutet hatte, eine Erlösung sein.

      Aber es war eine ungewöhnliche und die Polizei verwirrende Tatsache, daß keine Geschäftsbücher vorhanden waren, aus denen die Höhe der Schulden seiner Kunden zu ersehen war. Man fand weder in seinem Büro noch in seiner Bank Schuldscheine oder Verträge. Gewöhnlich bringen Geldverleiher ihre Papiere und andere Sicherheiten in den feuersicheren Räumen der Banken unter. Selim hatte auch auf der Bank keinen großen Betrag. Obwohl sein Konto lebhafte Bewegungen aufwies, war sein laufender Bestand doch nie größer als einige hundert Pfund. Wenn er Geld einzahlte, so wurde es auch bald wieder abgehoben. Wenn er Deckung für einen Scheck schaffen mußte, der auf eine größere Summe lautete, so zahlte er jedesmal den nötigen Betrag in Banknoten ein.

      Man hätte annehmen sollen, daß Selim unmöglich seiner Bank unbekannt geblieben sein konnte. Zum mindesten mußte er doch einmal zur Bank gegangen sein, um sein Konto zu eröffnen. Aber es ergab sich die merkwürdige Tatsache, daß die erste Einzahlung von einer anderen Bank in der Provinz überwiesen wurde, deren Direktor gestorben war. Doch wenn er noch gelebt hätte, wäre er wohl kaum in der Lage gewesen, Aufschluß über Selim zu geben. Hätte man nun sagen wollen, daß er seine Spuren verwischt hatte, so wäre das auch nicht richtig gewesen, denn er hatte überhaupt keine Spuren hinterlassen, die zu verwischen wären. Er war unerkannt irgendwoher gekommen und ebenso unerkannt wieder ins Nichts verschwunden.

       Inhaltsverzeichnis

      Scottie ging selten bei Tag aus. Er tat es aber nicht aus Geheimniskrämerei, sondern er nahm Rücksicht auf Andys Wünsche. Er ließ sich im allgemeinen nur zwischen ein und zwei Uhr mittags sehen, und um diese Zeit speiste man in Beverley Green gewöhnlich zu Mittag.

      Er verließ Nelsons Haus durch den Seitenausgang, um zum Gästehaus zu gehen und Andy zu sprechen. Ein Artikel in einer Morgenzeitung, die er unter dem Arm trug, war der Zweck seines Besuches. Er selbst wurde nämlich darin erwähnt, und ihm war unbehaglich. Irgendein Berichterstatter, der anscheinend nichts von der Beendigung des Verfahrens gegen Scottie gehört hatte, schrieb etwas von einer aufsehenerregenden Verhaftung in diesem kleinen Ort, die kurz vor dem Mord stattfand, und zog hieraus für Scottie wenig schmeichelhafte Schlüsse.

      Er hatte kaum einen Schritt auf die Straße getan, als er schon wieder stehenblieb.

      Ein großes Auto versperrte den Weg, es stand halb auf der Straße und war halb in die Sträucher hineingefahren, die sie begrenzten. Scottie wußte, daß die Anlagen der Stolz der Bewohner von Beverley Green waren.

      Der Chauffeur hatte ein rotes Gesicht und machte verzweifelte Anstrengungen, den Wagen zu wenden, worunter natürlich die Sträucher litten. Aber Scotties Aufmerksamkeit richtete sich nicht auf den Chauffeur, auch nicht auf das prachtvolle Auto – er sah nur die Dame, die darin saß.

      Ihr Alter war schwer zu schätzen, aber sie war eine majestätische und bis zu einem gewissen Grad sogar schöne Erscheinung. Unter dem Hut zeigte sich üppiges, rotes Haar, zu dem ihre schwarzen Augenbrauen einen eigentümlichen Gegensatz bildeten. Eine dicke Puderschicht bedeckte ihr von Natur rotes Gesicht. Die großen blauen Augen traten ein wenig hervor. All dies stellte Scottie fest, während er ihren Schmuck einer eingehenden Prüfung unterwarf.

      In den Ohren trug sie Brillanten von der Größe zweier Erdnüsse. Eine dreifach geschlungene Kette großer Perlen lag um ihren Hals. Eine Brillantbrosche blitzte an ihrem Kleid, eine Smaragdspange an ihrem Gürtel. Scottie betrachtete ihre Hände und stellte fest, daß sie nur an den Daumen keine Ringe trug.

      »Es tut mir entsetzlich leid, daß der Wagen hier soviel Schaden anrichtet, aber warum machen Sie Ihre Straßen nicht breiter?«

      Sie mußte wohl einige Jahre in Amerika gelebt haben, denn sie hatte diesen eigentümlichen Akzent angenommen, den Engländer nach einem längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten