geräuschlos abschloß. »Man muß doch den Mädchen in diesem Alter die Möglichkeit geben, sich zahm zu prügeln …« –
»Monsieur Laurent?« fragte Shup höflich den jungen Mann, den ihm der Kellner gezeigt hatte.
Monsieur Laurent nickte heftig, sah Shup stürmisch in die Augen und sprang auf.
Shup beschwichtigte ihn mühsam, behauptete, bereits seit Wochen vergeblich um den Mut gerungen zu haben, sich ihm zu nähern, legte ihm tiefernst die Hand auf den Arm und ließ einschlüpfen, daß er seine Freundin Yvonne nicht mehr so zu schätzen wisse wie früher, seit er ihn gesehen.
»Yvonne?« wiederholte Monsieur Laurent, bis in den Kragen hinein verlegen.
»Sie kennen sie? Aber meine Freundin heißt Chevigny.« Shup nannte absichtlich einen falschen Familiennamen.
»Ah! Die Yvonne, die ich kenne, nennt sich Grobet.«
›Also Yvonne!‹ Shup besichtigte mit Ergötzen den erlöst-qualligen Zustand von Laurents Visage und sagte schnell: »Grobet? Ah, von der habe ich bereits gehört. Und genügend Reichliches! Nehmen Sie sich um des Himmels willen in acht! Das ist eine ganz gefährliche Person!«
Monsieur Laurents Mandelaugen verbogen sich. »Wirklich?«
Es war für Shup nun Fibelarbeit, herauszukitzeln, was er zu wissen wünschte. Er erfuhr, daß Yvonne Laurent vorgeschlagen hatte, sich als Dame zu verkleiden, um auf diese Weise leichter arbeiten zu können, daß sie sich dazu bereit erklärt hatte, ihn ununterscheidbar anzulernen und geschickt einzuführen, und daß sie sich ein nettes Honorar ausbedungen.
Shup beschimpfte sich innerlich grauenhaft wegen seiner unverzeihlichen Voreiligkeit und war gerade im Zuge, Yvonne zur klügsten und herzensgütigsten Kokotte umzustilisieren, als er ein Taxi vor dem Café halten sah und einen ganz außergewöhnlich derangierten, ihm aber dennoch sehr bekannten Hut darin erblickte.
Yvonne und Rosanette tänzelten Arm in Arm heran.
Monsieur Laurent drückte sich hinter die spanische Wand, nicht ohne zuvor seinen Picon vernichtet zu haben.
Shup trat gravitätisch auf die beiden frisch gekitteten Freundinnen zu.
»Hein?« höhnte Yvonne. »Also eifersüchtig? Was für ein Affe du doch bist! Das hätte ich dir nicht zugetraut!«
Rosanette lächelte kindlich. »Ich habe Yvonne erzählt, was wir mit dem alten Schusselé vorhaben und daß ich nur deshalb zu Ihnen kam, Shup.«
Shup beeilte sich unglaublich, verständnistriefend zu schmunzeln. Er kannte gar keinen alten Herrn namens Schussele. ›So ein Aas, diese Rosy, aber tüchtig!‹ sagte er sich erfreut. »Und wie kamt ihr aus dem Zimmer?«
»Rosanette warf ihr leeres Täschchen auf die Straße, als eben ein hübscher Junge vorbeiging, und der holte dann den Schlosser.«
»Gut,« äußerte Shup gnädig. »Aber nächstens, liebe Yvonne, sei bitte vorsichtiger, obwohl ich mich sehr freue, daß du so viel Unternehmungslust zeigst …«
»Wie?« Yvonne wunderte sich ärgerlich. »Vorsichtiger?«
»Ja. Dein Laurent ist nämlich ein Spitzel,« triumphierte Shup, um die Oberhand nicht einzubüßen.
Nierenräumer und der Sozialismus
»Bitte ein Billett zweiter Klasse für dreißig Mark.«
Der Dresdener Schalterbeamte runzelte mürrisch die Stirn.
Deshalb sagte Nierenräumer: »Es ist ganz gleichgültig, wohin. Es handelt sich nämlich um eine Wette.«
Es handelte sich um keine Wette, sondern um eine der rabiaten Launen Nierenräumers, hervorgerufen durch den Mangel eines größeren Betrages.
Der Schalterbeamte belächelte alsbald loyal diese Angelegenheit und ließ sich zu einem Billett nach Breslau herbei.
Nierenräumer, der die vorvergangene Nacht in den unersättlichen Armen einer Rosa und die vorhergegangene auf einem Billard zugebracht hatte, gab dem Schaffner den Auftrag, ihn rechtzeitig zu wecken, seine letzte Mark und sich hierauf dem Schlafe hin.
Um acht Uhr abends schlenderte er bereits in Breslau ausgeschlafener, aber hungriger durch die Hauptstraße. Mehrmals. Und nochmals. Und wurde allmählich so übelgelaunt, daß er nicht einmal mehr das Nächstliegende, die Bekanntschaft einer liebenden hilfreichen Dame, sich angelegen sein ließ.
Er war auf dem besten Wege, vermittels einer gänzlich sinnlosen Anrempelung eines Oberprimaners einem leichten Hungerkoller nachzugeben, als ein von einer Bogenlampe übermäßig beleuchtetes fuchsrotes Plakat am Eingang eines stattlichen Gebäudes, in das ohne Unterlaß Menschen hineinströmten, ihn glücklicher Weise davon abhielt.
Er las mit einiger Neugierde:
Vortrag
des Privatdozenten Prof. Dr. Elias Traumdotter über die Verwerflichkeit des Gebrauchs sabotistischer Kampfmittel.
Nach dem Vortrag freie Diskussion.
Nierenräumer grinste, hob den Kopf und vergewisserte sich, das Volkshaus vor sich zu haben, bevor er, um einiges lebhafter, es betrat.
Im Saale setzte er sich in der Nähe des Podiums hinter eine Art von Verschlag und döselte so lange, bis ihm brausendes Beifallsrufen und schmetterndes Händeklatschen das Ende des Vortrags kündeten.
Unverzüglich folgte er dem Redner in das Referentenzimmer, wo er forsch auf ihn zutrat, sich gemessen verneigte und sehr laut äußerte: »Ich bin eigens zu Ihrem Vortrag aus Dresden hierher gekommen. Nierenräumer mein Name. Ich bin seit acht Jahren in der Bewegung. Herr Professor kennen mich vielleicht bereits.«
Professor Traumdotter erinnerte sich nun zwar nicht, behauptete aber gleichwohl, schon das Vergnügen gehabt zu haben, und sprach den Wunsch aus, Nierenräumer bei der folgenden Diskussion zu hören und nachher im Café Fahrig noch zu sehen.
Jenes geschah dergestalt:
Professor Traumdotter Heß sich in der Hitze des Kampfes zu der Behauptung hinreißen, die Sabotage sei deshalb ein ganz besonders verwerfliches Kampfmittel, weil ja doch der Arbeiter selbst derjenige sei, welcher schließlich den angerichteten Schaden reparieren müsse.
»Aber er wird doch dafür bezahlt!« rief einer.
»Er verdient dann unter Umständen sogar mehr!« schrie ein anderer.
Professor Traumdotter ergriff in höchster Verlegenheit ein Wasserglas.
Nierenräumer, der die für ihn so günstige Gelegenheit dieses peinlichen Augenblicks sofort erkannte, brüllte plötzlich in den Saal: »Herr Professor Traumdotter hat durchaus recht. Der Arbeiter bekommt zwar unter Umständen einen höheren Verdienst. Aber, meine Herren, denken Sie doch nur an die Kontinuität der irregulären Elemente innerhalb des Proporz-Verhältnisses.«
Professor Traumdotter atmete befreit auf, stürzte sich auf diese rettend ausgeworfenen Vokabeln und schwamm alsbald wieder obenauf.
Infolgedessen begrüßte er Nierenräumer nachher im Café fast überschwenglich.
Dieser zögerte nun nicht länger, sich ein Restaurationsbrot und eine Portion Tee servieren zu lassen und mit also wiedererlangter voller Unternehmungslust die Aufmerksamkeit Professor Traumdotters einerseits auf den Proporz zu lenken, andererseits aber den Wunsch auszusprechen, einem älteren, von ihm längst gesichteten Herrn samt Tochter vorgestellt zu werden.
Selbstverständlich war dies Professor Traumdotter eine Ehre und deshalb auch Herrn Karl Schmalzberger, Delikatessen en gros, und dessen sehr blonder Tochter Pippa, die eigentlich, was Nierenräumer rasch erfuhr, Martha hieß, aber so überaus für Gerhart Hauptmann schwärmte, daß …
Nierenräumer