Simon Reynolds

Retromania


Скачать книгу

die Stones. Das waren die Kassenschlager in den Auktionshäusern, und eigentlich sind die einzigen Namen, die in den letzten 20 Jahren zur Königsklasse dazugekommen sind, die Sex Pistols und – an einem guten Tag – Madonna.« Christie’s hat ein paar Sachen von Blur und Oasis verkauft, aber das hat, im Vergleich zu dem, was mit den Beatles zu tun hat, nirgends für so viel Aufregung gesorgt. Es ist für jemanden, der nach dieser Ära kam, fast unmöglich, diesen Status zu erreichen.«

      Johan Kugelberg versuchte mit seiner 2007er-Ausstellung Born in the Bronx den Laden am Laufen und die Sammler und Kuratoren, was Hip Hop betraf, bei der Stange zu halten. Nur ein Jahr später unternahm das britische Auktionshaus Dreweatts mit ihrer Verkaufsshow ArtCore einen dreisteren Vorstoß: ein frühzeitiger und wahrscheinlich voreiliger Versuch, den Markt für Artefakte aus der Rave-Kultur zu erschließen. ArtCore, das geistige Kind der Kuratorin von Dreweatts, Mary McCarthy, die, während sie in den 90ern Kunstgeschichte studierte, selbst Raverin war, eröffnete seine Ausstellungsräume im Februar 2009 im Keller des Kaufhauses Selfridges in der Londoner City. Obwohl ich selbst Teil der Rave-Kultur war, fand ich diese Entwicklung weniger beunruhigend als vielmehr angenehm irritierend. Die Epoche, die hier nostalgisch gefeiert wurde, lag erst 15 bis 20 Jahre zurück. Als ich am Abend der Eröffnung durch die Ausstellung schlenderte, fragte ich mich, wer diese leinwandgroßen Versionen der Flyer kaufen sollte, deren grelle cyberdelische Vorstellungswelt, die damals schon kitschig war, so furchtbar gealtert war. Womöglich möchte man den tatsächlichen Flyer haben, um sich gelegentlich auf einen angenehmen Trip in die Vergangenheit zu begeben, aber wer würde tatsächlich sein Wohnzimmer von ihm beherrschen lassen?

      Ich nahm an, dass die Gemälde Originale im Stil der Flyer waren, aber es stellte sich heraus, dass die Sache noch komplexer gelagert war. Da Flyer, T-Shirts etc. nicht über die Einzigartigkeit verfügen, die entweder einen Marktwert oder eine »Aura« im Sinne Walter Benjamins generieren, musste sich McCarthy einen genialen Trick einfallen lassen, um Sammlerstücke zu produzieren. Es gab nicht einmal eine originale Druckvorlage für die Flyer, die meisten entstanden aus Entwürfen, die dann am Computer mit etwas, was man als lächerlich unbeholfene und primitive Grafikdesign-Programme bezeichnen könnte, zusammengesetzt worden waren. Die Lösung bestand also darin, die Designer um Gemälde zu bitten, die auf den originalen Flyern basierten, und die damit ganz neuartige Arbeiten erschufen. Das führte zu sonderbaren Eigenheiten in der Datierung – ein Flyer, der 1988 herauskam, musste auf 2008 datiert werden, dem Jahr der Reproduktion –, aber laut McCarthy »war das der einzige Weg, wie ich diese Werke auf den Kunstmarkt bekam«.

      Ich persönlich ziehe es vor, die massenhaft produzierte Kopie zu besitzen, die wirklich im Umlauf war, als ein aus einem Retro-Geist heraus erschaffenes Pseudo-Original. Der Flyer hat einen echten Bezug zur Geschichte. Und es gibt tatsächlich einen Absatzmarkt für Old-School-Rave-Flyer. Aber für ein Auktionshaus wie Dreweatt »wäre es ziemlich schwierig, Flyer zu verkaufen«, sagt McCarthy, »sie sind so klein«. Sammler wollen für ihr Geld etwas Visuelles geboten bekommen, etwas, das sie zur Schau stellen können. Eines der wenigen Originale auf der ArtCore-Veranstaltung – ein gerahmter Flyer von der Größe eines Flugblatts und mit einer rudimentären Schwarz-Weiß-Grafik für den legendären Acid-House-Club Shoom – sieht wirklich unscheinbar aus, das muss ich einräumen.

       DIE VERGANGENHEIT SPIELT VERRÜCKT

      Punk verachtete die Vergangenheit und sah deshalb das Museum als Feind. Bei Rave sollte seine Zukunftsbesessenheit eigentlich dafür gesorgt haben, dass er mit verstaubten Archiven nichts anfangen kann. Besonders der strenge Minimalismus des frühen Techno – Musik, die auf ihren Rhythmus und ihre Struktur reduziert wird, die wahre Klangkunst – erinnert an den Geist der italienischen Futuristen um etwa 1909 bis 1915. So sehr ich die Geschichte und das Nachdenken über die Vergangenheit auch schätze, wird ein Teil von mir immer begeistert dem futuristischen Manifest zustimmen, das die Rückwärtsgewandten mit Hohn und Spott überschüttet: Antiquare, Kuratoren, der Tradition verhaftete Kunstkritiker. Der italienische Futurismus war die Antwort auf das intellektuelle Hemmnis, in einem Land aufzuwachsen, das den Weg für den Tourismus als Zeitreise bereitet hatte (es ist schließlich fast immer die Vergangenheit eines Landes, in der man Urlaub macht, zumindest in der alten Welt), ein Land, das mit protzigen Ruinen, ehrwürdigen Kathedralen, prachtvollen Plätzen und Palästen und den monumentalen Überresten aus zwei goldenen Zeitaltern übersäht ist, dem Römischen Reich und der Renaissance.

      Im Gründungsmanifest von F. T. Marinetti, dem Begründer des Futurismus, heißt es: »Wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien. Schon zu lange ist Italien ein Markt von Trödlern. Wir wollen es von den unzähligen Museen befreien, die es wie zahllose Friedhöfe über und über bedecken … Museen; Friedhöfe! … Wahrlich identisch in der unheilvollen Promiskuität von vielen Körpern, die einander nicht kennen.« Er schimpft weiter in dieser sexuellen Metaphorik: »Ein altes Bild bewundern heißt, unsere Sensibilität in eine Aschenurne schütten, anstatt sie weit und kräftig ausstrahlen zu lassen in Schöpfung und Tat.« Kunstwerke aus der Vergangenheit zu verehren, sei wie seinen Élan vital mit etwas Leblosem und Verfaultem zu vergeuden; wie eine Leiche zu ficken.

      Marinetti malte sich aus, »Feuer an die Regale der Bibliotheken« zu legen und die Kanäle umzuleiten, »um die Museen zu überschwemmen«, so dass die »ruhmreichen Bilder zerfetzt und entfärbt« auf dem Wasser treiben. Was würde Marinetti, der das 1909 geschrieben hat, über die Situation der westlichen Kultur 100 Jahre später denken? In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben wir etwas erlebt, was Andreas Huyssen einen »Memory-Boom« genannt hat, in dem der Zuwachs an Museen und Archiven nur ein Aspekt der Obsession für Gedenkveranstaltungen, Dokumentation und Konservierung ist, der die gesamte westliche Kultur erfasst hat. Beispiele sind die Restaurierung alter Stadtzentren oder die Museumsdörfer, in denen Menschen in Kostümen, die an die Kleidung vergangener Zeiten erinnern, traditionelles Handwerk vorführen; die Popularität von Möbelimitaten und Retro-Dekor; die weit verbreitete Manie, sich selbst mit Kameras zu dokumentieren – und, da Huyssen seinen Essay bereits 2002 verfasst hat, müssen mittlerweile auch Handykameras, Blogs, YouTube etc. dazu gezählt werden; die Zunahme von Dokumentations- und Geschichts-Kanälen im Fernsehen; die Masse von Gedenkartikeln und Sonderausgaben von Magazinen (40 Jahre »Summer of Love«, die Mondlandung oder solche, die schlicht 20 Jahre oder die hundertste Ausgabe des Magazins selbst feiern).

      Huyssen bezieht sich auf Hermann Lübbes Konzept der »Musealisierung« – archivarisch zu denken durchströmt alle Bereiche der Kultur und des Alltags – und stellt die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der zweiten Hälfte gegenüber, wobei er eine Verlagerung von der Beschäftigung mit der »gegenwärtigen Zukunft« zu einer »gegenwärtigen Vergangenheit« feststellt. Im größten Teil des letzten Jahrhunderts waren die Schlagworte Modernität und Modernisierung, der Akzent lag darauf, voranzuschreiten, der entschlossene Blick lag auf allem, was in der Gegenwart »die Welt von Morgen« verkörperte. Dieser Blick verschob sich seit den frühen 70ern zunächst schleichend, dann aber in zunehmendem Maße hin zu einer Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit in der Gegenwart; eine gewaltige kulturelle Veränderung, die den Aufstieg der Nostalgie-Industrie mit ihrer Retro-Mode und ihren Revivals, das postmoderne Potpurri aus vergangenen Stilen und die spektakuläre Zunahme an dem, was als kulturelles Erbe klassifiziert wird, umfasst.

      Die Idee eines kulturellen Erbes kann bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Zu der Zeit wurde in Großbritannien der National Trust gegründet, um »Orte von historischem Interesse oder Naturschönheiten« zu schützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Impuls zu, jenseits des antiquarischen und aristokratischen Ursprungs zu konservieren. Es gab Kampagnen für die Bewahrung der Dampflok oder herrschaftlicher Anwesen und einen Kult um die Restaurierung von Kanalbooten. Zu einer Massenbewegung wurde die Bewahrung des kulturellen Erbes aber erst in den 80ern. 1983 wurden das National Heritage Act, eine Kommission für historische Bauten und antike Monumente, gegründet, besser bekannt als English Heritage. Das Sammeln von Antiquitäten war nun nicht mehr nur eine vornehme Beschäftigung, sondern ein Zeitvertreib der Mittelklasse, der von einer erweiterten Definition des Begriffs Antiquität bestärkt wurde, der neben Handgefertigtem auch profane,