den Begriffsrahmen des Pop ist Morrissey der oberste Poet der reflexiven Nostalgie (auch wenn Ray Davies ihm mit »Waterloo Sunset« und dem Herbst-Almanach englischer Schwermut, The Kinks Are the Village Green Preservation Society, starke Konkurrenz macht). Sowohl bei den Smiths als auch während seiner Solokarriere trauert Morrissey einem Ort und einer Zeit nach (das Manchester der 60er und 70er), in der er keine glückliche Stunde vergeudete [A. d. Ü.: Im Original Anspielung auf die Songzeile »I never stole a happy hour around here« aus dem Song »Late Night, Maudlin Street«]. Allerdings hat Morrissey ab und an auch die Grenze zur gefährlichen restaurativen Nostalgie überschritten, mit kontroversen Auftritten (als er sich auf einem Rock-Festival in den Union Jack eingehüllt hat), missverständlichen Songs (»The National Front Disco«) und unbedachten Äußerungen in Interviews (als er 2007 im NME mitteilte, dass das heutige Großbritannien kaum mehr als ein Land mit eigener Jugend erkennbar sei und das teilweise der Immigration zuschrieb).
Museen, Reunions, Rockdokus, Reenactments
Zu Beginn muss ich ein Geständnis ablegen: Mein Bauchgefühl sagt mir, dass Pop und Museen nicht zusammenpassen. Ich glaube nicht, dass irgendeine Musik im Museum funktioniert, einem Ort der Stille und Etikette. Museen sind in erster Linie visuell, auf die Ausstellung ausgerichtet und zur Betrachtung konzipiert. Das ausschlaggebende Element des Klangs fehlt entweder vollständig oder wird unterdrückt. Anders als bei Gemälden und Skulpturen kann man akustische Exponate nicht nebeneinander präsentieren; sie würden sich gegenseitig im Wege stehen. Daher findet man in Museen, die sich der Musik widmen, das ganze Zubehör (Instrumente und Bühnenoutfits, Poster und Verpackungen), aber nicht die Hauptsache selbst. Ephemera, aber nicht das Wesentliche. Zudem beißt sich das Museum – ein Lagerplatz für Kunstwerke, die die Zeit überdauerten – mit der lebendigen Energie von Pop und Rock. Ich halte es hier mit Nik Cohn: Er schrieb Ende der 60er aus Sorge über die künstlerischen Bestrebungen und die Seriosität des modernen Rock, dem eine Zukunft vor sitzendem Publikum, das »artig klatschte«, beschieden sei, das Buch Awopbopaloobopalopbamboom, das den »Superpop, die Lärm-Maschinerie und das Image, den Hype und das wunderbare und blitzartige Auftauchen des Rock’n’Roll« elegisch feiert. Bei Pop geht es um den Kick des Augenblicks; er lässt sich nicht in eine ständige Ausstellung zwängen.
Als ich an einem Wochentag im August 2009 in Richtung des British Music Experience wanderte, dem großen, neuen Rockmuseum in Großbritannien, dachte ich für einen Moment, dass sie vielleicht, nur vielleicht, die Sache doch richtig gemacht haben könnten. Das Museum befindet sich in Londons gigantischem O2-Komplex, und der Weg vom Vorplatz zu der silbernen blasenförmigen Kuppel führt an riesigen, aufgeblähten Fotografien vorbei, die Schlüsselereignisse der Popgeschichte zeigen: eingefrorene Momente der Ekstase und des Rausches von der Beatlemania und der Bay-City-Rollermania über wütende Punks und kreischende Durannies bis hin zu Metal-Monstern und Madchester-Ravern.
Meine größte Sorge in Museen ist immer Punk, dieser Riss durch die Rock-Historie, der das Alte in den Mülleimer der Geschichte stieß. Kann so ein apokalyptischer Bruch in das Ordnungssystem eines Archivs passen und trotzdem noch sein Wesen behalten, seine Radikalität? Eine Rollschuhdisco voller pubertierender Mädchen, die freudig umherhuschen und ein Paar übergroßer Aufstellfiguren von Jarvis Cocker und Dizzee Rascal weisen mir den richtigen Weg und ich gelange zur British Music Experience. Um einen ständigen Fluss von Besuchern aufrecht zu erhalten, werden diese in Intervallen eingelassen, also hängen wir in einem Wartezimmer herum, das auch als Museumsshop dient. Als wir reingelassen werden sollen, tönt aus den Boxen »Anarchy in the UK«. Genau richtig, um mein Unbehagen wieder zurückzuholen.
Bevor man in die Hauptausstellung gelangt, erklärt ein kurzer Einführungsfilm, wie man am meisten aus diesem British-Music-Experience-Erlebnis herausholt: »Wie im Rock’n’Roll gibt es hier keine Regeln«, aber es gibt eine Zeitachse, an der man sich orientieren könne, »falls man Lost-in-Music ist«. Als ich endlich in der eigentlichen Ausstellung angelangt bin, ist mein erster Eindruck, dass sie den Cyberspace imitieren soll. Im Gegensatz zu den hohen Decken und leeren Flächen typischer Museen, ist es in der British Music Experience schummerig und intim und in jeder Ecke flackern LED-Leuchten. Es gibt einen zentralen Raum, der von sogenannten Edge Zones umgeben ist, Räumen, die jeweils ein Stück britischer Rockgeschichte präsentieren (1966–1970 oder 1976–1985 oder …). Man kann diese also in chronologischer Abfolge im Uhrzeigersinn betreten oder zufällig kreuz und quer, so dass die Geschichte im Shuffle-Modus abläuft. Als weitere Anspielung auf das Web 2.0 und um das Museum zu modernisieren und aufzupeppen, wird an die Rückwand jedes Raumes eine Galerie von Symbolen, die auf bestimmte Künstler, Alben, Ereignisse und Trends verweisen, projiziert, die man durchscrollen und anklicken kann, um mehr zu erfahren.
Gedämpfter Lärm erfüllt den zentralen Raum, es vermischen sich die Musik der sieben Seitenräume mit den Klängen aus verschiedenen interaktiven Bildschirmen. Man hat nicht bloß das Gefühl, in elektronisches Licht, sondern auch in einen überzeitlichen Musikbrei einzutauchen: »Relax« + »Rock Island Line« + »West End Girls« + »What Do I Get« + _____. Zu jeder Pop-Periode gibt es eine Art runden Tisch: vier Stühle mit Bildschirmen an der Rückenlehne und auf jedem der Bildschirme läuft ein Interview-Ausschnitt mit einem Pop-Protagonisten. Im ersten Seitenraum kann man einer virtuellen Dinnerparty der Veteranen des britischen Rock’n’Roll beiwohnen – mit Vince Eager, Joe Brown, Cliff Richard und Marty Wilde –, ihr Hauptgesprächsthema ist die Bedeutung von Elvis in Großbritannien.
Wenn man jedoch von den protzigen zeitgemäßen Exponaten absieht, so ist das meiste, was man im British Music Experience geboten bekommt, identisch mit dem, was man auch in einem altmodischen Museum sieht. Anstelle der Schränke mit ethnologischen Kuriositäten oder ausgestopften Tieren finden sich hier hinter Glas Relikte aus der Welt des britischen Pop und Rock: Instrumente, Bühnenkostüme, Konzertposter, Notenblätter und Plattenhüllen. Im 50er-Raum findet sich etwa ein Flugblatt von 1958 für eine musikalische Kreuzfahrt (The Floating Festival of Jazz) von London nach Margate und wieder zurück – oder die schwarze Augenklappe von Johnny Kidd von den Pirates. Für die 60er gibt es ein Beatles-Kleid, das die Platzanweiserinnen bei der Premiere von A Hard Day’s Night trugen oder die Sitar, die Justin Hayward von The Moody Blues auf In Search of the Lost Chord gespielt hat. Auf Glam (Bowies Thin-White-Duke-Outfit, inklusive Gitanes in der Westentasche) folgt Punk. Die Einführungstafel informiert die Besucher vorsichtig, dass Punk »schockierend, neuartig und subversiv« gewesen sei. Natürlich wird nichts von dieser aufständischen Kraft durch die leblosen Objekte der Ausstellung übertragen: Pete Shelleys auseinandergebrochene Gitarre, eine Setlist der Stranglers und so weiter.
Während ich durch die Unterpunkte scrolle, die zu Punk angeführt werden, klicke ich auf ein Symbol, das auf das bahnbrechende Ereignis von 1977 verweist: »Das Ringen der Musikpresse darum, das Wesen von Punk festzuschreiben«. Offensichtlich fanden die britischen Musikmagazine keine »einigermaßen passende neue Sprache und keinen Wertmaßstab, um Punk zu beurteilen, also verwendeten sie die alten Maßstäbe«, was dazu führte, dass The Clash als »die neuen Beatles«, The Jam als »die neuen Who«, The Stranglers als »die neuen Doors« und so weiter betitelt wurden. Diese Beispiele mögen richtig sein, aber es ist seltsam, dass dies der einzige Ort ist, an dem in dem Museum Musikzeitschriften vorkommen, und es wird hier nicht nur deren Rolle als Kultur-Agenten heruntergespielt, sondern auch unterstellt, dass die britische Musikpresse Punk missverstanden hätte. Der Wahrheit aber käme näher, dass die Zeitschriften – NME, Sounds, Melody Maker – es waren, die Punk nach vorne gebracht haben – viele Konzerte wurden ja verboten und im Radio kaum etwas gespielt. Die Musikpresse bot tatsächlich ein Forum, in dem die Bedeutung von Punk verhandelt und ausgefochten werden konnte und von wo aus Punk über die Landesgrenzen hinaus auf der ganzen Welt Verbreitung fand. Die Rockmusik-Medien haben diese Geschichte nicht nur in Echtzeit dokumentiert (sie widmeten sich den Neuigkeiten, während Museen immer nur »das Alte« zeigen können), sie waren in dieser Geschichte auch eine treibende Kraft.