was um sie herum geschah, nahm sie gar nicht mehr wahr. Die Hände krampften sich ineinander. Das Haar war noch grauer geworden.
»Mutter«, flüsterte Dave, »wir haben doch alles versucht, um Vater zurückzuhalten.«
»Ja, Dave«, sagte sie klanglos, mit erschreckender Ruhe. »Mach dir keine Vorwürfe.«
Dave schluckte und legte die Hände auf ihre Schultern. Er wusste nicht, was er tun sollte.
Mit leerer Stimme flüsterte seine Mutter immer wieder: »Sie haben ihn umgebracht. Sie haben ihn umgebracht.«
Er nahm die Hände zurück, drehte sich um und ging hinaus. Das Gewehr seines Vaters lag noch im Staub. Pferde waren darüber hinweggetrampelt. Vielleicht war der Lauf verbogen. Dave dachte nicht daran. Er blickte die Straße hinauf, sah, wie die Yankees sich vor dem großen Saloon zusammenrotteten. Grauer Rauch wehte über die Straße. Auf den Feldern wütete das Feuer. Die Sonne stand schon tief über den Hügeln von Südwest-Texas. Dort im Westen stieg der Abenddunst aus den Niederungen empor und ließ die Konturen der Hügel verschwimmen.
Langsam ging Dave zum Gewehr, hob es auf und ging zurück, blieb im Hauseingang stehen und sah, wie mehrere Yankees mit gefesselten Männern zum Saloon kamen. Es waren vier Männer aus dieser Stadt, die erbittert Widerstand geleistet hatten, nachdem Daves Vater erschossen worden war. Dave kannte sie alle. Unwillkürlich wich er zurück und starrte wie gebannt zum Saloon. Deutlich erkannte er den Captain zwischen den Soldaten, und ihm wurde auf einmal heiß unter der Haut.
Der Captain hatte seinen Vater erschossen, aber niemand würde den Captain dafür zur Verantwortung ziehen. Sein Vater hatte den Tod herausgefordert.
Sonnenschein fiel über die Dächer der Häuser und brachte noch mal große Hitze in die Stadt. Lange Schatten krochen über die Straße.
Dave hielt das Gewehr fest umklammert und schluckte schwer. Er sah zum Saloon, wo die Gefangenen in einer Reihe standen. Der Captain sprach zu ihnen, doch Dave konnte die Worte nicht verstehen.
Er verließ seinen Platz an der Tür und ging in den Wohnraum zurück. Still stand er dort einige Sekunden und horchte. Stimmengemurmel tönte von der Straße herein. Er hörte nichts von seiner Mutter, keine Worte und kein Weinen.
Vor dem Saloon brüllte der Sergeant einen Befehl.
Dave lief zur Tür zurück und sah, dass die Yankees die vier Männer zum Mietstall nebenan zerrten. Das Stalltor war ein großes, dunkel gähnendes Loch. Zwei Soldaten holten vier Pferde aus dem Stall, brachten die ungesattelten Tiere unter den Holzpfosten, der weit über dem Stalltor hervorragte und an dem eine Winde befestigt war. Schon warf jemand einen Strick über den Balken, zog ihn stramm und knüpfte eine Schlinge. Reglos stand der Captain neben dem Tor und sah hoch. Die Schlinge baumelte herunter und bewegte sich im Abendwind.
Die vier Gefangenen wurden auf die sattellosen Pferde gehoben.
Voller Entsetzen begriff Dave, was geschehen sollte.
Das war der Krieg – mitleidlos, unmenschlich. Dave hatte manchmal vom Krieg gehört und nicht daran glauben wollen. Auch der Süden sollte entsetzliche Gräueltaten begangen haben. Aber er war ja immer in dieser Stadt gewesen, und darum glaubte er, dass nur die Yankees so unmenschlich wären.
Er warf sich herum, lief in den Wohnraum und stürzte in den kleinen Schlafraum.
Tot lag der Vater im Bett. Die Mutter saß reglos auf dem Stuhl und hatte den Kopf gesenkt.
»Mutter!«, keuchte Dave. »Die Yankees werden vier Männer aufhängen! Sie rächen sich für die Schüsse, Mutter! Großer Gott, was sollen wir tun, Mutter?«
Sie gab keine Antwort.
Dave kam näher, ging um den Stuhl herum und kniete nieder. Er sah in das Gesicht seiner Mutter und wurde auf einmal steif.
Frieden war in ihrem Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Noch immer waren die Hände ineinandergelegt.
»Mutter, was ist denn?«
Ihr Mund war für immer stumm. Sie hatte ihn verlassen. Sie war tot. Das Herz hatte versagt. Aber das wusste Dave nicht. Er wusste nur, dass sie tot war.
Sein Gesicht sank auf ihren Schoß. Er weinte wie ein kleiner Junge.
Draußen wurde ein Befehl laut.
Dave stand auf. Sein Gesicht war nass, eine erstarrte Landschaft der Gefühle. Das Gewehr rutschte ihm aus der Hand, polterte auf den Bretterboden. Das harte Geräusch ließ ihn zu sich kommen. Er packte das Gewehr und rannte durch die Hintertür auf den Hof, lief in den Stall und sattelte das Pferd des Vaters in fieberhafter Eile. Er wollte hinausreiten und irgendwo dort draußen allein sein. Später wollte er zurückkehren und der traurigen Pflicht nachkommen.
Als das Pferd gesattelt war, hörte er einen Schrei. Er zuckte zusammen, lief ins Haus und nach vorn. An der Tür prallte er zurück.
Der erste der vier Männer hing schlaff und tot am Strick. Das sattellose Pferd war bis zum nächsten Haus gelaufen und dort von einem Yankee aufgehalten worden. Gerade holte ein Soldat den leblosen Mann herunter, löste die Schlinge und zwei andere brachten den zweiten Gefangenen zu Pferde unter die Schlinge.
»Nein«, stöhnte er, »nein, das dürft ihr nicht tun!«
Aber sie würden es tun. Das war das Gesetz eines grausamen Krieges. So und nicht anders hatte auch der Süden seine Feinde gerichtet.
»Nein«, flüsterte Dave mit zersprungener Stimme, »nein.« Doch schon befand sich der zweite Gefangene unter dem mörderischen Strick, wurde ihm die Schlinge um den Hals gelegt.
Dave sah ganz deutlich das Gesicht des Mannes, den er so gut kannte. Jeden Tag hatte er ihn irgendwo in der Stadt getroffen, und sie hatten auch manchmal ein paar Worte miteinander gewechselt, hatten einander einen guten Tag gewünscht. Jetzt saß der Mann unter der Todesschlinge.
Dave konnte das alles nicht verstehen.
Wie im Traum hob er das Gewehr seines Vaters an.
Niemand sah herüber. Die Yankees hielten Waffen in den Händen, aber sie kehrten Dave den Rücken. Rauch wallte von den Feldern herüber und wehte am Mietstall vorbei. In der Stadt brachen die brennenden Häuser zusammen, und Funken wirbelten über die Straße. Deutlich sah Dave den Captain und den Sergeant. Der Captain stand gleich neben dem Strick und sagte irgendetwas zum Gefangenen. Der gefesselte Mann schüttelte den Kopf und presste den Mund ganz hart zusammen. Tapfer saß er auf dem Pferd. Die Schlinge lag um den Hals. Noch hing der Strick locker durch.
Schwer ruhte das Gewehr in Daves nassen Händen. Der Lauf ragte über den Platz hinweg, auf dem sein Vater den Tod gefunden hatte.
Immer wieder zogen Rauchschwaden über die Yankees hinweg. Die beiden Männer, die etwas abseits gefesselt auf den Pferden saßen, waren so bleich wie der Tod. Sie klagten nicht.
Dave wusste nicht, dass er Schicksal sein würde. Er würde diese beiden Männer retten, aber er ahnte es nicht. Er wollte den Mann mit dem Strick um den Hals retten.
Oft hatte Dave am Rande der Stadt mit dem Gewehr auf kleine Ziele geschossen. Sein Vater hatte nie etwas dagegen gehabt. Dave konnte sicher schießen, und er traute sich auch jetzt zu, den Strick mit einem einzigen Schuss zu durchtrennen.
Auf einmal war er ganz ruhig. Die Hände zitterten nicht mehr. Er war allein und würde wohl immer allein bleiben. Das Pferd stand hinterm Haus bereit. Die Dämmerung kam immer näher. Schon sank die Sonne hinter den Hügeln, und auf der Straße herrschte seltsam fahles Licht.
Da hob der Captain die Hand.
Hinter dem Pferd stand ein Soldat mit einem schweren Waffengurt in beiden Händen. Damit sollte er auf das Pferd losschlagen, damit es vorwärtssprang. Dann würde der Gefangene vom Pferd rutschen und an der Schlinge hängen Schieß, schrie es in Dave. Rette ihn! Schieß auf den Strick! Du triffst den Strick bestimmt!
Seine Augen flackerten heftig. Sekundenlang konnte er nichts sehen. Er kniff sie schnell zusammen – dann war alles wieder erschreckend