Tatjana Kruse

Leichen, die auf Kühe starren


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ausrauben.“

      Manni presste sich die Nase an der Seitenscheibe platt und lugte in den finsteren Wald. „Ich sehe nichts.“

      Rudi versetzte ihm eine Kopfnuss.

      „Die steht da wie eine Salzsäule“, konstatierte Nicht-der-Hinterseer. „Ob die überhaupt echt ist?“

      Das stimmte. Die Frau schien nicht einmal zu blinzeln.

      Die fünf Männer – allesamt Mitglieder des Hinterseer-Fanclubs Rosengarten-Uttenhofen e. V. – beugten sich jetzt gemeinschaftlich nach vorn. In einer fließenden Bewegung. Wie Synchronschwimmer. Sie atmeten so heftig aus, dass die Windschutzscheibe beschlug. Karl-Heinz, der am Steuer saß, zog den Duschabzieher aus dem Ablagefach in der Fahrertür und sorgte für klaren Durchblick. Er betrachtete sich als Mann der Tat.

      Doch auch bei nunmehr bester Fernsicht schien die Frau starr wie eine Marmorstatue. Einem unbewussten Lemming-Reflex folgend reckten die fünf Männer unisono ihre Köpfe noch weiter nach vorn.

      Was jetzt auch die Frau tat. Ein unbeteiligter Dritter (rein rechnerisch ein unbeteiligter Siebter) hätte mutmaßen können, dass sie sich über die Männer lustig machte.

      „Huch, sie lebt!“, entfleuchte es Manni. Die Männer zogen ihre Köpfe wieder ein.

      „Was machen wir jetzt?“, fragte Beppi.

      Sie waren alle fünf gestandene Kerle. Angesehene Bürger ihrer süddeutschen Heimatgemeinde. Beppi und Manni arbeiteten in der Stadtverwaltung, Rudi leitete ein Versicherungsfilialenbüro, Nicht-der-Hinterseer war Schlosser, und Karl-Heinz, das ergab sich fast zwangsläufig aus dem Bindestrich in seinem Namen und dem Duschabzieher in der Fahrertür (den er mitgebracht hatte), war Lehrer. Für Französisch und Mathematik.

      Und natürlich war es Karl-Heinz, der sagte: „Wir fragen sie, ob sie Hilfe braucht.“ Er löste den Sicherheitsgurt, ruckelte seine Baskenmütze gerade und stieg aus.

      Die anderen sahen ihm nach.

      Karl-Heinz war mitnichten ihr Anführer. Sie hatten keine Numero uno in ihrer Truppe. Sie waren einfach fünf Männer, die eine Leidenschaft teilten – die Leidenschaft für Hansi Hinterseer. Also nicht für den Mann per se, sondern für das, wofür er stand: Musik, die ins Blut und ins Herz und in die Schunkel-Muskulatur ging. Leichtigkeit, Lässigkeit, lockere Männlichkeit. So wollten sie alle sein. Aber weil man bei Hinterseer-Fans an völlig enthemmte Matronen dachte – wie beispielsweise die Frau in dem YouTube-Video, die während einer Show von Hansi auf die Bühne sprang und mit ihm tanzte und einfach nicht wieder gehen wollte und von einem Ordner weggeführt werden musste –, also weil man gemeinhin Hinterseer-Fans nicht mit echten Kerlen assoziierte, war ihr Fanclub sowas wie ein Männergeheimbund, von dem niemand etwas wusste. Nicht die Ehefrauen von Rudi, Manni und Beppi und auch nicht die Mama von Nicht-der-Hinterseer. Karl-Heinz war Single. Man durfte aber davon ausgehen, dass seine beiden Wellensittiche aufgrund täglicher Beschallung durchaus eine Ahnung von seiner heimlichen Liebe hatten. Glücklicherweise hatte er ihnen nie das Sprechen beigebracht, und somit konnten die Federträger es auch nicht ausplaudern – beispielsweise gegenüber der Nachbarin von Karl-Heinz, die sich während seiner Abwesenheit um Amore und Mio kümmerte und sie mit Körnerfutter und Frischwasser versorgte. Ja, Karl-Heinz hatte seine Sittiche nach einem Hit von Hansi Hinterseer benannt. Und ja, das Geheimnis von Manni, Rudi, Beppi, Nicht-der-Hinterseer und Karl-Heinz war zu 99 Prozent sicher. Das einprozentige Restrisiko hatte einen Namen. Es hieß Manni. Weil der immer erst redete, bevor er dachte. Sehr oft dachte er auch einfach nicht.

      „Sollten wir nicht auch aussteigen und dem Karl-Heinz Rückendeckung geben?“, fragte Rudi.

      Manni, der viel zu früh viel zu viele Hollywoodhorrorfilme gesehen hatte, betätigte die Zentralverriegelung. „Nee, der Karl-Heinz macht das schon.“

      Sie sahen zu, wie sich Karl-Heinz der Erscheinung näherte.

      Eigentlich waren die fünf auf einer Pilgerfahrt nach Kitzbühel. In der Hoffnung, Hansi Hinterseer zu begegnen. Und um etwas zu erledigen. Etwas Großes. Eine Mission Impossible. Sie fühlten sich alle ein bisschen wie Tom Cruise, der das Unmögliche möglich machte, ohne dass dabei seine Föhnwelle auch nur ein einziges Mal verrutschte.

      Sie hatten sich den Kleinbus von Beppis Frau Gabi ausgeborgt, die ihr Geld als mobile „Frisöse und Maniköse“ verdiente. Beppis Worte. Deswegen auch die Flügel auf dem himmelblauen Wagen – weil Gabi „ein Engel war, der Schönheit und Wohlbefinden selbst in die entlegensten Ortschaften brachte, sowie zu Frauen und Männern und Nicht-Binären, die aufgrund von Einschränkungen das Haus nicht verlassen konnten und dennoch nach Ästhetik lechzten“. Gabis Worte.

      Dummerweise hatte Gabi kein GPS in ihrem mobilen Schönheitsstudio, nur auf ihrem Handy. Und die Handys der Männer waren – wie immer gegen Monatsende – wegen des vielen Streamens schon an ihrer Volumengrenze. So hatten sie sich nach der letzten Pinkelpause mit Fahrerwechsel verfranzt, einen großzügigen, unbeabsichtigten Schlenker durch das wunderschöne Tirol gemacht und waren nun hier gelandet. Im nebligen Nirgendwo. Aber egal. Alle Wege führen nach Rom. Respektive Kitzbühel.

      Karl-Heinz, den sie nur von hinten sahen, schien etwas zu sagen. Der Kopf mit der Baskenmütze wackelte jedenfalls.

      Manni war felsenfest davon überzeugt, dass die Frau in Rot ihrem Kumpel Karl-Heinz gleich den Kopf abbeißen würde. Nervös nestelte er an seinem Kragen. „Warum dauert das so lange?“

      Rudi, Beppi und Nicht-der-Hinterseer teilten Mannis Angst zwar nicht, aber auch ihnen war klar, dass „die Weibchen der Spezies“ sehr viel gefährlicher waren als die Männchen.

      Immerhin bewegte sich die Erscheinung jetzt. Sie zeigte in den Nebel.

      Karl-Heinz verschwand kurz aus ihrem Sichtfeld, dann tauchte er wieder auf, und zwar rücklings. Keuchend zerrte und ruckelte er an einem Koffer. Eigentlich mehr Schrank als Koffer. Jedenfalls zu wuchtig für den mindertrainierten Karl-Heinz.

      „Kann mir mal wer helfen!“, rief er über seine Schulter in Richtung Kleinbus.

      Rudi entriegelte die Beifahrertür.

      Beppi langte über ihn hinweg und drückte den Knopf wieder nach unten. „Wir nehmen sie doch wohl nicht mit?“

      „Willst du die Frau etwa hierlassen? Allein? Mitten in der Nacht?“ In Rudi kam der Gentleman durch.

      „Du weißt genau, warum das nicht geht. Manni kann seine Klappe nicht halten. Was ist, wenn er plappert? Wenn durch ihn alles auffliegt?“

      Manni drehte sich zu Beppi. „Redest du von mir?“

      „Nein, ich meine einen völlig anderen Manni.“ Beppi schürzte die Lippen.

      „Ach so, dann ist ja gut.“ Manni verschränkte die Arme und schmollte.

      Rudi guckte unentschlossen zu Nicht-der-Hinterseer. Der zuckte ratlos mit den Schultern.

      „Was ist jetzt?“, brüllte Karl-Heinz ungeduldig. Er rackerte sich an dem Schrankkoffergriff ab, aber seine Kräfte waren aufgebraucht.

      Die vier im Kleinbus sahen hinaus in die Nacht. Dann schlug Nicht-der-Hinterseer zur Güte vor: „Wir könnten die Verkehrswacht verständigen, die holt sie dann schon. Oder die Polizei.“

      „Oder die Telefonseelsorge?“, lästerte Rudi. „Depp. Niemand Offizielles darf wissen, dass wir hier sind!“

      „Aber wenn wir ihr nicht helfen, machen wir uns verdächtig. Dann merkt sie sich vielleicht das Kennzeichen, meldet es, und meine Gabi bekommt Schwierigkeiten. Nee, so nicht!“ Beppi entriegelte die Tür.

      Die Tür glitt auf, und in diesem Moment materialisierte sich die Frau direkt vor ihnen. Weil sie so mit sich beschäftigt gewesen waren und es nicht hatten kommen sehen, quietschten die vier auf. Unisono.

      „Grüß Gott!“ Ihre Stimme klang sympathisch. Von Nahem wirkte sie gar nicht mehr bedrohlich. Dafür sehr viel älter, als es der knallrote Lederoverall und die High Heels von Weitem hatten vermuten lassen. Also, nicht nur älter. Richtig alt.