Hai erinnert, der sein Revolvergebiss fletschte. „Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.“
Alle sahen vorwurfsvoll zu Karl-Heinz. Der das nicht mitbekam, weil er konzentrationstechnisch voll im Kampf Mann gegen Koffer aufging.
„Machen wir doch gern“, log Rudi. „Ich bin der Rudi. Beppi, Hansi, Manni.“ Er zeigte auf die anderen und dann nach draußen zu dem riesigen Schrankkoffer mit dem Wackelmännchen daran. „Den Karl-Heinz kennen Sie ja schon.“
„Freut mich sehr.“ Sie strahlte die Männer der Reihe nach haifischartig an. „Ich fürchte nur, Ihr Karl-Heinz bekommt meinen Koffer nicht allein in den Wagen.“
Keiner rührte sich.
„Vielleicht möchten Sie ihm helfen?“ Sie hatte definitiv was Karl-Heinzisches. Will heißen: Lehrerhaftes. Strenges.
Beppi, Rudi und Nicht-der-Hinterseer sprangen aus dem Kleinbus und halfen Karl-Heinz mit dem unhandlichen Gepäckstück. Nur Manni blieb sitzen und starrte die Oma an. Gerade wollte er sie fragen, wie sie denn hierhergekommen war, so ganz ohne Fahrzeug, pumperlallein im Nichts. Da sagte sie: „Mein Koffer feuchtelt rot an den Ecken. Das ist aber kein Blut.“ Sie kicherte. Es war ein Blofeld-Kichern. „Nein, kein Blut. Ich habe … Pesto aus Italien als Mitbringsel dabei. Da muss mir wohl ein Glas zerbrochen sein.“ Sie kicherte erneut.
Manni wurde bleich. Ihm schien, als habe sie seit ihrem Auftauchen kein einziges Mal geblinzelt. Wer, bitteschön, war so völlig blinzellos? Mit Wucht meldeten sich seine Horrorfilmerinnerungen wieder. „Ich helfe den anderen“, krächzte er und verließ fluchtartig den Wagen.
Die Frau äugte in den Innenraum des Busses. Die fünf Männer hatten in den wenigen Stunden ihrer Pilgerfahrt aus dem makellosen Interieur von Gabis mobilem Schönheitsstudio ein krümeliges, fleckiges, schlieriges, olfaktorisch bedenkliches Vehikel gemacht. Hätte sie raten müssen, welchem Hobby die Jungs nachgingen, die Frau in Rot hätte auf das Sammeln von Sporen, Grünspan und Schimmelpilzen getippt. Sie seufzte, kletterte dennoch hinein, setzte sich auf den Beifahrersitz und nahm ihre ausgebeulte Gobelintasche auf den Schoß.
Im CD-Player ging Hansi Hinterseer zu einem neuen Song über. Ein flottes Intro erschallte.
Die ausgebeulte Tasche auf dem Schoß der alten Frau wackelte. Nicht im Takt, aber immerhin. Die Alte tätschelte den Gobelinstoff. „Alles gut, alles gut“, raunte sie.
In der Tasche blieb es still. Vitzliputzli liebte Musik, aber er sang nicht.
Draußen schoben sie zu fünft den irrsinnig schweren Koffer in Richtung Kleinbus. Und weil Karl-Heinz und Rudi den Koffer schoben, Nicht-der-Hinterseer und Beppi jedoch den Karl-Heinz und den Rudi und Manni mit je einer Hand den Beppi und den Nicht-der-Hinterseer, sah es ein bisschen so aus wie eine Tiroler Polonaise. Was gut passte, denn genau darüber sang Hansi Hinterseer gerade in diesem Moment vom CD-Player. „... die Tiroler Polonaise, das ist Gaudi total. Die Tiroler Polonaise, und jetzt alle noch einmal …“
Das Ganze zog sich, aber irgendwann gab es ein Happyend. Kaum zu glauben, trotz allem noch deutlich vor Sonnenaufgang.
Den Männern gelang es, den Schrankkoffer auf das Dach des Kleinbusses zu wuchten, wo sie ihn vertäuten. Als sie schwer atmend und durchgefroren – es wurde nachts jetzt doch schon empfindlich kalt – wieder in den Bus stiegen, schenkte die alte Frau in ihrem sexy Lederoverall allen ein herzliches Lächeln. Wirklich herzlich diesmal, nicht fischgebissig. „Danke, Jungs. Ich mach’s wieder gut bei euch, versprochen.“ Das hätte, gerade angesichts ihres roten Leder-Outfits, eindeutig zweideutig rüberkommen können. Aber es klang kein bisschen nach Sexworkerin, sondern eindeutig nach Kindergärtnerin, als sie sagte: „Ich bin die Frau Obermoser. Ihr dürft mich Frau Obermoser nennen.“
Weil alle noch entkräftet keuchten, antwortete keiner. Frau Obermoser nutzte die Gunst der Atemlosigkeit und meinte treuherzig: „Karl-Heinz, Sie erwähnten die Ferienwohnung in der Wehrgasse, die Sie für sich und Ihre Freunde angemietet haben.“
„Mit …“ Keuch, keuch. „... Parkmöglichkeit …“ Keuch, keuch. „… für den Bus.“ Da war Karl-Heinz stolz drauf. Keiner der anderen hätte an dieses Detail gedacht und dann hätten sie womöglich stundenlang zwischen Unterkunft und Parkplatz pilgern müssen.
„Das war sehr weitsichtig von Ihnen“, lobte Frau Obermoser. „Eine Weitsicht, die mir fehlt. Leider habe ich versäumt, ein Hotelzimmer zu buchen. Und jetzt ist es ja irrsinnig spät. Was meinen Sie, dürfte ich – nur für heute Nacht – mein Haupt in Ihrer Ferienwohnung betten?“
Wären die Männer nicht immer noch vom ungewohnt sportlichen Gewaltakt sprachlos gewesen, dann wären sie es aufgrund dieses Ansinnens wohl spätestens jetzt.
„Ich weiß, es ist viel verlangt, aber Sie würden doch eine alte Frau nicht mitten in der Nacht aussetzen, oder?“
Die Jungs warfen sich verstohlene Blicke zu. Keiner traute sich, ihr ein beherztes „Doch!“ zuzurufen. Verdammt, sie waren einfach alle zu gut erzogen.
„Wunderbar!“, freute sich Frau Obermoser. „Sie sind die Besten! Und jetzt los. Auf nach Kitzbühel!“
Es gibt Momente im Leben, da muss man sich dem Schicksal geschlagen geben. Was war schon eine Nacht? Für das, was sie geplant hatten, blieb noch genug Zeit.
Beppi schob Manni vorsorglich einen Energieriegel in den Mund, damit er die Klappe hielt. Nicht-der-Hinterseer und Rudi schunkelten im Rhythmus von Hansi Hinterseers Ein kleines Edelweiß. Karl-Heinz zählte alle Anwesenden durch – er hatte einen Zählfimmel –, rückte seine Baskenmütze neckisch schief und ließ den Motor an.
Der Kleinbus machte einen Hops nach vorn, dann zuckelte er durch die Nacht.
Oben auf seinem Dach ruckelte der Schrankkoffer an den Halteseilen. Seine Ecken feuchtelten nicht länger, sie leckten.
Und zwar rot.
Blutrot …
Tag 1
Man soll den Tag nicht vor dem Kaffee loben
Leo war seit exakt fünf Stunden und fünfzig Minuten 30 Jahre alt, und so richtig prickelnd fand sie das nicht. Deswegen würde sie heute auch nicht feiern. Allenfalls ein Bier zu Feierabend.
Sie pustete sich eine Locke aus dem Gesicht und marschierte den Einsiedeleiweg zügig hangabwärts. Spät dran. Wie immer.
Eigentlich hieß sie ja Luisa, aber schon beim Rausploppen aus dem Mutterleib – deutlich vor dem errechneten Geburtstermin während einer Zugfahrt – hatte sich gezeigt, dass sie gern sternzeichengerecht ihren eigenen Kopf durchsetzte. Und das Abenteuer liebte. So wurde aus Luisa bei allen, die sie als die Löwin kannten, die sie war, kurz Leo.
30. Sie hatte immer gedacht, mit 30 würde sie wissen, was sie vom Leben wollte. Da sei man halbwegs gesettelt. Sie hatte immer geglaubt, nach drei Jahrzehnten müsse klar sein, wohin man gehöre. Gerade als Löwin sollte sie sich bis dahin ihr eigenes Territorium erobert haben – und gut.
Aber nichts war weiter von ihrer derzeitigen Realität entfernt. Sie hatte ihr Studium geschmissen (zweimal), war ein paar Jahre mehr oder weniger ziellos durch die Welt gebackpackt und jobbte nun befristet als Zimmermädchen. Wäre ihre Großmutter – die sie nur aus den wenigen Ferienwochen ihrer Schulzeit kannte, weil sich die Mama mit der Oma böse entzweit hatte und die Mama (alleinerziehend) daraufhin über die Grenze ausgewandert war – nicht vor Kurzem gestorben, hätte sie jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf. So war sie vor Kurzem nach Kitzbühel gekommen. Um den Nachlass zu regeln. Um herauszufinden, wie es für sie weitergehen sollte. Aber so richtig angekommen war sie noch nicht. Und ob sie nun in Kitz jobbte wie jetzt, oder an der französischen Riviera wie letztes Jahr, oder in Kopenhagen wie vorvorletztes Jahr – irgendwie schien ihr das Leben ein einziger Tempel der Ödnis und Langeweile.
Wenn sie so darüber nachdachte, wurde sie doch einen Ticken nervös. Was sollte aus ihrem Leben werden? Das konnte doch nicht ewig so luschig in der Schwebe bleiben.
Leo hätte