Tatjana Kruse

Leichen, die auf Kühe starren


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schon bin. Ich sehe aus wie eine sizilianische Witwe.“

      Niemand sah weniger wie eine sizilianische Witwe aus als diese laszive Rothaarige in Pulli und Caprihose.

      Leo wienerte mit dem Staubtuch nun schon zum gefühlt hundertsten Mal über die Kommode, auf der der Breitbildfernseher stand. Nur für den Fall, dass die Hausdame gleich unangekündigt den Kopf durch die Tür mit der Kordel am Knauf steckte. Sie ignorierte den Witwenteil und kam noch einmal auf das Grab zu sprechen.

      „Er wurde hier in Kitzbühel zur ewigen Ruhe gebettet?“ Als ob ihre Oma aus ihr sprach. Die hatte bei einem ähnlich gelagerten Fall – also kein spektakulärer Verbrecherunfall, aber ein Tourist, der nach einem Infarkt hier eingeäschert worden war – sehr schmallippig geäußert, dass Leute, die nicht von hier waren, sich gefälligst auch in heimischer Erde begraben lassen sollten; Leichentourismus gehöre sich nicht.

      Leo rollte innerlich mit den Augen, weil sie so ungläubig gefragt hatte. Aber es interessierte sie wirklich, warum der Mann nicht in seine Heimatstadt überführt worden war. Man lag doch gern da, wo Freunde und Familienangehörige mal eben rasch vorbeikommen und einen gießen konnten. Oder nicht?

      „Ja. Auf diesem wunderschönen Friedhof neben der Kirche.“ Irina stand auf, ging zu der Nespresso-Maschine, drückte eine Kapsel hinein und sagte über das Rattern hinweg: „Ich dachte damals, es würde ihm gefallen. Die gute Luft. Mit dem unverbaubaren Blick auf die Berge. Bei uns in Berlin hätte er nur graue Hochhäuser gesehen.“

      Leo verkniff sich die Bemerkung, dass er gar nichts mehr sehen konnte. Weil er ja tot war.

      Irina hob die Tasse an die perfekt bemalten Lippen und nahm einen Schluck. Die Lippen waren danach immer noch perfekt, aber den Tassenrand zierte jetzt ein korallenroter Abdruck. „Heute bedauere ich das fast ein wenig. Nicht, dass er hier liegt. Nein, gar nicht. Aber dass ich hergekommen bin. Man soll die Toten ruhen lassen.“ Sie schaute versonnen auf das Ölgemälde über dem Bett. Es zeigte einen röhrenden Hirsch. „Ich dachte, wenn ich nach Kitzbühel fahre … wenn ich vor seinem Grab stehe und mich noch einmal an all die schönen Momente mit ihm erinnere … dann würde ich einen Abschluss finden und könnte wieder neu anfangen. Aber ich fühle mich wie begraben unter einer Lawine von Erinnerungen an unsere Liebe. Mehr denn je fühle ich mich verdammt einsam. Verstehen Sie das?“

      Leo neigte nicht zu Gefühlsduseleien. Sie dachte, dass Irina so arm nicht dran sein konnte, wenn sie sich eine Suite in einem exklusiven Fünf-Sterne-Luxushotel zu leisten vermochte. Auch wenn’s die kleinste Suite des Hauses war. Und auch, wenn die Suiten in der Zwischensaison immer ein wenig finanzierbarer waren als beispielsweise während des Hahnenkammrennens. Aber sogleich schalt sie sich selbst für ihre Kaltschnäuzigkeit. Schwerverbrecher waren ja auch Menschen. Menschen, die jemand, der sie gerngehabt hatte, vermissen konnte. Niemand hatte nur schlechte Seiten. Das war doch ein wunderbares Beispiel für die Macht der Liebe.

      Blöderweise hatte sie keine Schatulle mit Sinnsprüchen parat, aus der sie jetzt ein paar passende Trostzitate fischen konnte. „Tja … das Leben … Sie sollten sich ablenken. Es ist zwar momentan nicht so sehr viel los, aber heute Abend findet ein Sportereignis statt. Curling. Wird bestimmt unterhaltsam. Kommen Sie doch vorbei.“

      Irina sah Leo an. Sehr lange, sehr intensiv.

      „Ja, vielleicht mache ich das.“ Jetzt lächelte sie. „Das Leben muss ja weitergehen. Ich überlege es mir.“

      Leo lächelte auch. „Super. Aber ziehen Sie sich warm an!“

      Sie sah zum Bad. „Soll ich wirklich nicht saubermachen?“ Über die Fliesen wischen, die Haare aus dem Duschabfluss fischen, die Toilette desinfizieren, die kleine Vase mit den Duftstäbchen neu auffüllen?

      „Nein.“ Irina stellte sich zwischen Leo und die Badezimmertür. Grazil, wie sie war, kam sich Leo spontan wie ein Elefant vor. „Hören Sie … äh …“

      „Leo“, sagte Leo.

      „Leo.“ Irina lächelte. „Ich habe mit … Freunden … Termine ausgemacht und bleibe daher noch einige Zeit in Kitzbühel. Momentan suche ich ein Haus hier in der Stadt. Zur Miete. Oder zum Kauf. Das ist ja immer eine gute Investition. Sobald ich etwas gefunden habe, brauche ich jemand, der mir hilft. Eine …“

      „Zugehfrau?“

      „Eine Hausdame. Einkaufen, putzen, mir eine Tasse Kaffee aufbrühen. Kleine Besorgungen.“

      „Aber … warum ich? Sie kennen mich doch gar nicht.“

      Irina zuckte mit den Achseln. „Ich habe ein sehr feines Gespür für Menschen. Zwischen uns stimmt die Chemie. Sagen Sie mir einfach, wie viel Sie verdienen wollen. Fangen Sie mit dem Doppelten an, was Sie hier bekommen. Und legen Sie noch was drauf. Mir ist wichtig, dass ich jemanden um mich habe, den ich sympathisch finde und dem ich vertraue. Sie wären perfekt!“

      In Leo überlegte es. Sie konnte eine Geldspritze gut gebrauchen. Allerdings handelte es sich hier um die Witwe eines berüchtigten Verbrechers. Die sich offenbar ein Haus in Kitzbühel leisten konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Andererseits konnte Leo das Geld wirklich gut gebrauchen. Besonders üppig war ihr Gehalt im Marchwardushof nicht. Aber was würde Neuveille sagen, wenn sie ihn einfach so im Stich ließ?

      Angesichts des inneren Für und Wider huschten Leos Augen von links nach rechts und zurück. Wie bei den Zuschauern in Wimbledon.

      „Sie müssen sich nicht sofort entscheiden“, sagte Irina. „Überlegen Sie in Ruhe.“

      Leo wollte gerade etwas antworten, da wurde die Zimmertür aufgestoßen und die Hausdame schaute herein. „Alles in Ordnung?“

      „In bester Ordnung. Sie können sich wieder entfernen.“ Irina winkte die Hausdame mit einer lässigen Handbewegung davon. Die presste die Lippen aufeinander, aber der Gast war nun mal König, also entfernte sie sich.

      Irina zwinkerte Leo verschwörerisch zu.

      „Danke“, hauchte Leo.

      Eine Viertelstunde später – sie lüftete gerade ein Doppelzimmer, das zur Straßenseite lag – sah Leo, wie Irina in einem eleganten Pelzmantel das Hotel verließ.

      Als sie auf den Flur trat, fiel ihr auf, dass kein Bitte-nicht-stören-Schild am Türknauf zur Bellevue-Suite hing. Das war die Gelegenheit, doch schnell das Badezimmer zu putzen.

      Sie nahm einen Satz frischer Handtücher vom Wagen, betrat die Suite und gleich darauf das Bad …

      … und stockte.

      Eins der weißen Handtücher lag in der Wanne und war über und über mit Blut verschmiert!

      Aber dann sah sie die Packung besonders saugfähiger Tampons auf der Ablage über den Waschbecken und war sofort beruhigt. Das hatte doch jede Frau schon so oder so ähnlich erlebt. Die Schlachtplatte, während man seine Tage hatte. Ob sich Irina dafür schämte und sie deswegen nicht ins Bad lassen wollte?

      Oder lag es womöglich an dem Nassrasierer und dem PreShave-Men-Rasieröl in der Seifenablage der Dusche? Entweder hatte Irina ein echtes Gesichtsbehaarungsproblem oder aber sie teilte sich ihr Bad – trotz Einzelbelegung der Suite – mit einem Mann …

       (Gilt für alle Handwerksberufe, auch für Mörder)

      Arno Gümpel produzierte seine erste Leiche im zarten Alter von 13, als er – angetrunken – im Opel Manta seines Vaters eine Ausfahrt wagte. Er kam nicht weit. Schon an der ersten Ecke fuhr er einen Nachbarn platt. Das verlieh seinem Lebenslauf eine völlig neue Wendung.

      Arno Gümpel war durch diesen Vorfall nämlich keineswegs traumatisiert. Im Gegenteil. Er war begeistert. Und weil er nicht darauf warten wollte, bis sich so ein euphorisierendes Ereignis bei seinen regelmäßigen Saufeskapaden von allein wiederholte, trat er der Jugendgruppe der Anonymen Alkoholiker bei, damit er seinem neuen Hobby nüchtern nachgehen konnte. Anfangs tötete er Insekten und Kleintiere. Schon bald auch Zweibeiner aus der Familie der Hominidae,