Tatjana Kruse

Leichen, die auf Kühe starren


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im unteren zweistelligen Dezibelbereich Ausdruck verlieh. Gutes Zureden hatte nicht geholfen. Vielleicht, wenn er ihr Angst machte?

      „Ja, Madame, wir sollten leise sein, damit uns der Mörder … der potenzielle Mörder … nicht hören kann.“

      Entsetzt richtete sie sich aus ihrer Anti-Hyperventilationshaltung auf. Ihr Ehemann schaute Neuveille vorwurfsvoll an, dann setzte er sich neben sie in die Kabine und schloss die Tür. Die natürlich nicht aus Panzerglas bestand und somit vor wildgewordenen Mördern nicht wirklich Schutz bot, aber es half auf psychologischer Ebene. Bestimmt zum ersten Mal seit Jahrzehnten schmiegte sie sich an ihn.

      Da sie sich stumm schmiegte, war zumindest Neuveille glücklich.

      Er zog Leo beiseite. „Haben Sie der Dame von dem Kopf erzählt?“

      „Nein, natürlich nicht!“, empörte sich Leo und pustete sich eine Locke aus dem Gesicht. Eingeweihte hätten aus Empörung und Lockepusten schließen können, dass sehr wohl sie es gewesen war, die fasziniert von dem Schädelfund berichtet hatte – allerdings der Hausdame, nicht den Hotelgästen, die Frau musste das gehört haben –, aber Neuveille hatte Leo seit dem Einstellungsgespräch nicht mehr gesehen und war daher mit ihrer Körpersprache nicht vertraut.

      Kurzum, er akzeptierte ihr Leugnen. „Na gut. Jedenfalls danke, dass Sie mich informiert haben.“

      „Es ist mir leider nicht gelungen, die Dame zu beruhigen. Aber ich habe das Wir-reinigen-gerade,-bitte-nicht-betreten-Schild an die Tür zum Wellnessbereich gehängt. Vorerst kommt hier niemand rein.“ Leo wusste ebenso wie der Geschäftsführer, dass sich Panik wie ein Flächenbrand ausbreitete, wenn man nicht rechtzeitig Einhalt gebot.

      „Sie will also ein verdächtiges Subjekt gesehen haben“, fasste Neuveille zusammen.

      Leo nickte.

      „Dann sehe ich mir das mal an“, sagte Neuveille, blieb aber stehen.

      „Ich komme mit!“, erklärte Leo und lief los.

      Ihm war sichtlich unwohl bei dem Gedanken, gleich einem potenziellen Mörder gegenüberzustehen. Noch unwohler war ihm nur angesichts der Vorstellung, er müsse die Polizei ins Haus holen. Leo war ebenfalls nicht furchtlos, nur fest davon überzeugt, dass sich der Enthaupter schon längst abgesetzt hatte. Falls er sich denn überhaupt je im Hotel befunden hatte.

      „Die Dame und ihr Ehemann wohnen in 310“, sagte Leo, als die kleine Aufzugskabine sie im obersten Stockwerk ausspuckte.

      Neuveille klopfte an die Tür von Nummer 312, dem Zimmer schräg gegenüber.

      „Was ist?“ Es öffnete der Schrank von einem Mann, der Leo vorhin beim Schnüffeln in seinem Kulturbeutel entdeckt hatte. Leo strahlte. Sie hatte doch gleich gewusst, dass der nicht ganz koscher war.

      Der Mann überragte den Geschäftsführer, der kleiner war als Leo, um mindestens zwei Köpfe. Und weil er oben ohne war, sah man jeden einzelnen Muskel seines Sixpacks. Ebenso die grimmigen Tattoos auf seinem Brustkorb, die entfesselte Dämonen darstellten. Oder schlecht gelaunte Familienmitglieder. Jedenfalls war der Gesamteindruck bedrohlich und finster.

      Neuveille und Leo wurde klar, dass sie sich ein Konzept zurechtlegen hätten sollen. Hatten Sie eben ein blutiges Messer in der Hand, mit dem Sie vor Kurzem einen Menschen ermordet haben?, schien in diesem Moment kein vielversprechender Ansatz zu sein.

      „Äh … ein Gast meint, in Ihrem Zimmer etwas … Ungewöhnliches gesehen zu haben. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?“ Neuveille presste die Fingerspitzen aneinander und formte mit den Händen eine Pyramide. Zum ersten Mal fiel Leo auf, welch eklatante Ähnlichkeit er mit der Zeichentrickfigur Gru hatte – die spitze Nase, der tonnenförmige Torso auf den dürren Beinen, nur eben in viel kleiner.

      Hinter dem Schlägertypen tauchte ein weiterer Schlägertyp auf. Auch er oben ohne. Hatte Leo sich geirrt und die beiden waren doch schwul, und sie war mit dem Direktor womöglich in einen Frühmorgenquickie hineingeplatzt? Aber nein, auf den zweiten Blick entdeckte Leo Hanteln in den riesigen Pranken des Mannes. Die beiden trainierten. Sie mussten das in ihrer Suite tun, denn das Hotel hatte zwar einen Wellnessbereich, aber keinen Fitnessraum.

      „Was Ungewöhnliches?“, brummte der erste Mann.

      „Haben Sie sich verletzt? Ist dabei möglicherweise Blut geflossen?“ Leo inspizierte die sichtbaren Teile der beiden Männerkörper. Sie entdeckte jede Menge Narben, aber keine frischen Wunden.

      „Nein!“, erklärten die beiden unisono.

      Neuveille spechtete aus seiner tiefergelegten Position an den Männern vorbei in die Suite. Es war kein Messer zu sehen. Und auch kein Blut. Überhaupt war die Suite – wie schon vorhin – nachgerade verdächtig aufgeräumt. Als ob gleich ein Team von Schöner Wohnen käme, um den Raum abzufotografieren. Leo fand das hochgradig suspekt. Wie gestört musste man sein, um derart aufgeräumt zu leben? Aber wo kein Blut, da kein Blut.

      Jetzt erst bemerkte sie, dass die Männer den Tisch in die Mitte des Zimmers gerückt hatten. Ein aufgeklappter Laptop befand sich darauf, und auf dem Bildschirm sah man – da war sich Leo ganz sicher, kein Irrtum möglich – Jane Fonda bei Aerobic-Übungen. In engem Stretch-Leotard, mit hohen Beinausschnitten und tiefem Dekolletee.

      Jetzt erklärte sich auch, warum die beiden Männeroberkörper von einer dünnen Schweißschicht überzogen waren.

      „Vielleicht meinte die Dame Zimmer 313. Das ist auch gegenüber“, raunte Leo Neuveille zu. Und zu den bulligen Kerlen sagte sie treuherzig: „Verzeihen Sie bitte die Störung. Es muss sich um eine Verwechslung handeln.“

      „Noch einen schönen Aufenthalt.“ Der Direktor lächelte breit.

      Der Riese schloss die Tür.

      Neuveille und Leo sahen sich an. Man sprach es nie aus, das gehörte zum Kodex, aber manchmal dachte man als Im-Gastro-und-Hotelgewerbe-Tätiger schon, dass die Gäste merkwürdig waren. Spinner und Verrückte. Eigentlich dachte man das nicht nur manchmal. Man dachte es täglich. Mehrmals.

      Sie klopften an der Tür zu Suite 313.

      Sowohl Neuveille als auch Leo wussten, auf wen sie in dieser Suite treffen würden. Manche Gäste waren einfach deutlich memorabler als andere. So auch diese.

      Die Suite war belegt von einer arabischen Großfamilie. Was man so Großfamilie nannte. Ein erwachsener Mann, drei erwachsene Frauen, fünf Kinder unter fünf. Neuveille hatte früher einmal, als junger Kerl, tatsächlich geglaubt, Muslime hätten das große Los gezogen. Die müssten sich nicht für eine Frau entscheiden, sondern konnten bis zu vier Frauen haben. Abwechslung. Sahneschnitten. Party. Aber jetzt, als welterfahrener Mann, wusste er, dass vier Frauen einfach nur all die Probleme einer Ehe mal vier bedeuteten.

      Trotz Doppeltür hörte man Geschrei und Kinderlärm und Tohuwabohu und typisches Fernsehgemurmele. Letzteres bestimmt von Al Jazeera. Wie jedes Fünf-Sterne-Hotel bot auch der Marchwardushof je zwei Fernsehsender für das betuchte russische, arabische und chinesische Publikum.

      Neuveille klopfte erneut.

      Die Suite war die größte des Hauses und hieß daher Kaisersuite. Sie bestand aus zwei großen Schlafzimmern, einem Wohnzimmer mit Schlafcouch, einem Bad und einem Gäste-WC. Auf Wunsch der Familie waren noch zwei Kinderbetten hineingestellt worden. Aber es war trotzdem eng. In Kitzbühel gab es genügend gigantobastische Fünf-Sterne-Luxushotels, die in der Zwischensaison auch über jede Menge freie Suiten verfügten. Die Familie hätte problemlos eine geräumigere Unterkunft finden können. Aber nein, sie hatten sich für dieses Haus entschieden. Weil sie etwas Heimeliges mit Tiroler Gemütlichkeit suchten.

      Der Mann öffnete. Unter einem Araber stellte man sich ja gern einen bedrohlich wirkenden, vollbärtigen Terroristentyp in Herren-Kaftan und mit Arafat-Gedächtnistuch auf dem Kopf vor, aber der hier war kugelrund, hatte einen sehr gepflegten Hipster-Bart und trug Jeans und einen pastellfarbenen Kaschmirflauschepulli. Er guckte leutselig und strahlte mit jeder Pore Gemütlichkeit aus.

      „Jomaschejedemm?“, sagte er. So klang es zumindest