Tatjana Kruse

Leichen, die auf Kühe starren


Скачать книгу

Einsatz warteten, während der Kutscher sich eine Kaffeepause gönnte, schnaubten und wendeten die Köpfe, um sie trotz Scheuklappen betrachten zu können. Tiere haben ja ein viel feineres Gespür als Menschen, und vielleicht ahnten die Pferde, dass diese vier Menschen das Schicksal Kitzbühels verändern würden. Oder vielleicht schauten sie auch nur, weil Beppi so ungewöhnlich breitbeinig ging – die heiße Kaffeedusche in der Nacht war nicht folgenlos geblieben: Sein Skrotum war rot und geschwollen. Beppi hatte ein wenig Angst, dass er von nun an unfruchtbar sein könnte. Wie sollte er das seiner Gabi erklären?

      Die wenigen flanierenden Touristen sahen nur eine alte Dame, die anscheinend mit ihren drei aus der Art geschlagenen Enkeln unterwegs war.

      Frau Obermosers elegante Erscheinung wurde nur durch die ausgebeulte Gobelintasche gemindert, die sie aus unerklärlichen Gründen immer mitschleppte.

      Vom Eingangsbereich des Museums ging es zum Treppenhaus.

      „Besucht doch schon mal oben die Wintersportabteilung“, schlug Frau Obermoser vor, nachdem sie Eintrittskarten für alle gelöst hatte. „Ich komme gleich nach.“

      Rudi, Manni und Beppi schlurften los. Die Abteilung mit den „frühen Spuren Kitzbühels“ ließen sie dabei links liegen, und so würden sie nie erfahren, dass die Gegend seit der mittleren Bronzezeit, also seit fast 4000 Jahren, zu den bedeutendsten Produktionszentren für Kupfer im Ostalpenraum gehörte. Oder dass Kitzbühel 1271 zur Stadt erhoben und zum lebhaften Umschlagplatz von Vieh, Wein und Waren aller Art wurde.

      Gleich darauf standen die drei vor den Toni-Sailer-Erinnerungsstücken und stritten sich um die Kopfhörer, aus denen die konservierte Stimme des „schwarzen Blitzes“ zu hören war.

      Zwar war keiner der drei dem Skisport zugetan und ihr Interesse daher nur mäßig, aber interaktiv war für sie das magische Zauberwort. Und weil es nur zwei Kopfhörer gab, ging einer leer aus. In diesem Fall der Beppi.

      „Der hat Filme gemacht?“, staunte Beppi gleich darauf vor einem Filmplakat, auf dem der junge Toni Sailer versonnen in die Ferne schaute. Er stand breitbeinig und mit gebeugten Knien. Nicht der Toni, der Beppi. Weil sein Skrotum dann mehr Platz in der Jeans hatte. Beppi hätte sich in den Hintern beißen können, dass er seine Bequemjogginghose nicht mitgenommen hatte. „Ich dachte, der war Skifahrer?“

      „Der war halt mehrfach begabt.“ Manni nickte wissend. „Meine Oma hat die Filme mit ihm geliebt. Die markige Stimme. Die Bergsteigerdramen am Gipfel. Herz, Schmerz, Lebensgefahr. Und alles in Schwarz-Weiß.“ Er nahm die Kopfhörer ab, weil er den Controller nicht finden konnte. Was für eine blöde Spielkonsole. Dachte Manni.

      „Du meinst Luis Trenker, du Depp“, korrigierte Rudi, der trotz Kopfhörern alles mitbekam. „Trenker war schwarz-weiß, Sailer war schon Farbfilm.“

      Beppi und Manni schlenderten – mehr oder weniger lustlos wie Teenager auf einem zwangsverordneten Bildungstrip – an den Tafeln vorbei, die erklärten, dass Kitzbühel sich seit der ersten Ski-Abfahrt vom Kitzbüheler Horn durch Franz Reisch im Januar 1893 kontinuierlich zur Wintersportmetropole Österreichs hochgearbeitet hatte. Schon nach kurzer Zeit genoss der Ort internationalen Ruhm, die Beherbergungsbetriebe boomten und es entstanden neue Berufe wie „Skilehrer“.

      Ihre Aufmerksamkeit wuchs erst, als Rudi zu ihnen stieß und gleich darauf auf einen Namen zeigefingerte. „Da, seht ihr, Ernst Hinterseer, Skisportlegende. Das ist sein Vater!“

      Die Hinterseer-Fanbuben standen ehrfürchtig vor dem Gruppenbild an feschen Skifahrern, von denen – laut Tafel – einer Ernst Hinterseer, Slalom-Olympiasieger von 1960, war.

      „Aus diesen Lenden entsprang der Hansi“, murmelte Manni andächtig.

      Rudi und Beppi guckten ergriffen. Im Bruchteil eines Wimpernschlags hatte sich diese – für sie eher öde – Museumslandschaft in einen Ort der Legendenverehrung verwandelt. Gewissermaßen heiliger Boden.

      „He, ob’s hier auch einen Hansi-Hinterseer-Raum gibt?“

      Sie sahen sich an … und spurteten los. Erst bis ganz nach oben, dann wieder bis ganz nach unten – vielleicht hatten sie ja einen Raum übersehen? Und dann, enttäuscht, wieder zurück zu Papa Hinterseer, um seinen Lenden zu salutieren.

      „Wenn’s hier einen Kasten für Verbesserungsvorschläge gibt, werf ich einen Zettel ein, dass der Hansi-Raum fehlt“, erklärte Manni.

      Rudi nickte. Beppi kratzte sich im Schritt, weil der anfing zu jucken.

      „Juhu, wo seid ihr?“ Frau Obermosers Jodeln riss die drei aus ihrer Andacht heraus.

      An die Frau Obermoser hatten sie gar nicht mehr gedacht.

      Deren dezibelstarkes Jodeln war rein rhetorischer Natur, denn sie stand genau hinter ihnen und wusste folglich, wo sie waren.

      „Der Papa vom Hinterseer“, flüsterte Manni.

      Sie trat näher und inspizierte das Gruppenfoto. „Sehr schneidig. Von denen würde ich keinen von der Bettkante stoßen.“

      Nichts ernüchterte gestandene Männer schneller, als wenn eine Frau, die ihre Großmutter sein hätte können, schlüpfrig wurde.

      „Sollen wir hoch aufs Dach?“, schlug Rudi vor. „Den Ausblick genießen?“

      „Man sieht doch nichts vor lauter Nebel.“ Manni war bisweilen schwer von Begriff.

      Beppi und Rudi zogen ihn einfach mit.

      Ein unscheinbares Männchen kam ihnen auf der Treppe entgegen. „Sie müssen unbedingt aufs Dach“, sagte es unaufgefordert, in einheimischem Zungenschlag. „Aus der Nebeldecke ragt die Kirchturmspitze heraus. Das dürfen Sie sich nicht entgehen lassen.“

      „Wir sind schon unterwegs.“ Frau Obermoser schenkte dem Männchen ein wohlmeinendes Lächeln.

      Auf dem Weg zum Dach kamen sie an einem kleinen Raum vorbei, in dem – umsäumt von Schützentafeln – ein großer, dunkler Kasten stand.

      „Hui, was ist das?“ Frau Obermoser trat vor das kleine Erklärschild und las laut vor: „Kassa mit Kassettendeckelschloß mit 16 Fallen. Eisen, vermutlich süddeutsche Arbeit, 1. Hälfte 17. Jahrhundert.“

      Manni, Beppi, Rudi fanden den Kasten jetzt nicht so wahnsinnig spannend.

      Karl-Heinz dagegen schon. „Was sind denn bitteschön ‚Fallen‘, wenn es um eine Truhe geht?“, fragte er, zeitgleich mit seiner urplötzlichen Manifestation neben ihnen.

      Die Jungs schreckten zusammen, nur Frau Obermoser blieb die Ruhe in Person. „Karl-Heinz, wo kommen Sie denn her?“

      „Vom Hotel. Warum habt ihr mich nicht geweckt? Die Kellnerin vom Frühstücksbuffet hat mir gesagt, ihr wolltet ins Museum gehen. Ins Museum, habe ich noch gefragt? Ins Museum, hat sie gesagt.“ Karl-Heinz war immer noch nicht ganz über seine Verwunderung hinweg. Er hatte mit seinen Kumpels schon viel mitgemacht – Ballermann-Junggesellenabschied vom Beppi, Fan-Fahrt zu einem Champions-League-Spiel –, aber einen Museumsbesuch?

      „Es war die Idee von Frau Obermoser“, erläuterte Rudi.

      Das war sowas von klar. Wer, außer dieser Frau Obermoser, die sie aus der Güte ihres Männerherzens aufgelesen und mit nach Kitzbühel genommen hatten und die nun an ihnen klebte wie ein Schmarotzerfisch an einem Weißen Hai, wäre auf die Idee gekommen, ins Museum zu gehen? Seine Fanboys jedenfalls nicht.

      „Fallen …“, dozierte Frau Obermoser jetzt lehrerinnenhaft, was ganz besonders an Karl-Heinz nagte, „... Fallen unterteilt man in Schnappfallen und Riegelfallen. Man findet sie auf alten Kriegskassen. Beispielsweise aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ganz oft musste man mehrere Schließfunktionen und Tricks überwinden, um so eine Kasse zu öffnen. Ihr solltet den Deckel anheben und euch die Fallen einmal ansehen. Das ist hochinteressant. Und lehrreich.“

      „Danke, nein.“ Karl-Heinz war zwar neugierig, aber auch beleidigt. Er war das Gehirn ihrer Freundesgruppe. Normalerweise machte er die Ansagen. Und jetzt war er durch diese Frau Obermoser vom Anführer zum einfachen