Tatjana Kruse

Leichen, die auf Kühe starren


Скачать книгу

halbwegs im Rahmen zu spät zur Arbeit zu kommen.

      Kurz darauf wienerte sie das Bad der Sisi-Suite.

      Den Job im altehrwürdigen Marchwardushof, einem der allerersten und allerbesten Beherbergungsbetriebe von Kitzbühel und benannt nach Marchwardus, der um 1180 zum ersten Mal Chizbuhel mit Tinte auf eine Urkunde gänsefederte, hatte Leo nur temporär, jetzt in der Zwischensaison. Und auch nur, weil niemand Qualifizierteres zu haben war. Wer jetzt fragt, wie viel Qualifikation es erfordert, Hotelzimmer sauber zu machen, hat das noch nie getan.

      Leo hatte sich gut, sogar sehr gut eingearbeitet. Sie machte die Zimmer, reinigte den Poolbereich und half, wenn Not an der Frau war, auch nachmittags im Cafébereich aus. Herr Neuveille, der Hoteldirektor, hatte sie schon beim Einstellungsgespräch gefragt, ob sie nicht den Winter über bleiben wolle. Aber ganz ehrlich, wenn zur Skisaison wieder über 100.000 Verrückte in den kleinen 8000-Seelen-Ort einfielen, dann wollte Leo eher nicht im Hotel arbeiten. Es war so schon stressig genug. Fast alle guten Geister des Hauses waren in Urlaub, und von den Verbliebenen waren zwei krank. Ergo gab es – obwohl das Haus nur zur Hälfte belegt war – Stress.

      Die Zwischensaisongäste wussten zwar, dass Zwischensaison war, erwarteten aber dennoch den vollen Service. Und zwar pronto. Erst gestern hatte um Viertel vor zehn ein Gast an die Tür zum Spa-Bereich geklopft – ach was, gehämmert – und Eintritt verlangt, obwohl das Spa erst um zehn öffnete. Und ein anderer hatte sie zur Kaffeestunde angepflaumt, als sie die verschiedenen Kuchenvarianten nicht alle namentlich aufzählen konnte. Pech, aber sie waren ihr in den fünf Minuten, die ihr blieben, um sich vom Poolgirl in eine Aushilfsbuffetkellnerin zu verwandeln, nicht persönlich vorgestellt worden.

      Nee, das Hotel- und Gaststättengewerbe war auf Dauer nichts für sie.

      Wenn Leo ihr erstes Studium nicht abgebrochen hätte, würde sie jetzt Pubertierende in Sport und Englisch unterrichten. Das wäre aber weder für die Kids noch für sie ein Vergnügen gewesen. Leo war nicht wirklich kompatibel mit Menschen. Wer ihr dumm kam, wurde gerissen wie eine Antilope. Da kam die Löwin in Leo durch. Darum war es rückblickend gut, dass sie auch ihr zweites Studium an den Nagel gehängt hätte. Die Vorstellung, dass sie als Psychologin Menschen in seelischer Not half, war lachhaft.

      Und danach hatte Leo sich treiben lassen. War ein Jahr durch die Welt gebackpackt, hatte sich auf Hawaii von einem Surfer das Herz brechen lassen – und beim Bergsteigen in Nepal den linken Unterarm. Solange sie nicht wusste, was sie wollte, würde sie im Haus ihrer Oma bleiben. Schon immer wohnte Leos Familie in diesem – mittlerweile ziemlich windschiefen – Fachwerkhaus, das sich an den Hahnenkamm schmiegte. Beste Lage. Hätte man schon längst für einen Millionenbetrag verkaufen können. Grundstückswert, nicht für das windschiefe Hexenhäuschen, in dem man jedweden modernen Komfort vergeblich suchte. Immerhin hatte die Oma Anfang der siebziger Jahre ein Badezimmer einbauen lassen.

      Und so war Leo an diesem kühlen Herbstmorgen, an dem die Wolken so tief hingen, dass man das Gefühl hatte, sie beinahe anfassen zu können, zügig zum Marchwardushof geeilt, der punktgenau an der Stelle stand, wo die „Vorderstadt“ auf die „Hinterstadt“ traf, im mehr als 700 Jahre alten Herzen des Ortes, wo sie um nur zehn Minuten zu spät ihren Dienst angetreten hatte und nun die Sisi-Suite putzte.

      Das Einzige, was ihr in diesem drögen Einerlei half, war ihre Neugier. Hier zum Beispiel lag – unter zwei ordentlich gefalteten Handtüchern, als ob man es nicht sehen sollte – eine Heimwerker-Bibel auf dem Wasserkasten der Toilette. Noch in Folie eingeschweißt und mit dem Preisaufkleber Bücherklause Haertel direkt um die Ecke. Die Folie war allerdings an einer Seite aufgeschlitzt und jemand hatte einen gelben Post-it-Zettel hineingeschoben. Auf dem auch etwas stand. Man konnte es nur nicht lesen, weil es falsch herum hineingesteckt worden war. Leo schob ihren Zeigefinger unter die Folie und …

      „Was machen Sie denn da?“, brummte plötzlich eine Männerstimme. Sie brummte ungnädig. Der dazugehörige Kerl fixierte sie wie ein Krokodil, das gleich eine zarte Antilope mit einem einzigen Happs verschlingen wollte.

      Leo ließ vor Schreck das Buch fallen. Leider fiel es in die Kloschüssel, deren Deckel schon aufgeklappt war. Mit Putzmittel getränktes Wasser spritzte.

      „Was fällt Ihnen ein, sich so an mich anzuschleichen?“, donnerte sie.

      Wenn sie in ihren nunmehr 30 Jahren auf diesem Planeten eines gelernt hatte, dann das: Angriff war die beste Verteidigung!

      „Äh …“

      Leo war einen Meter achtzig groß, aber der Mann überragte sie um mehr als Kopfeslänge. Und war doppelt so breit wie sie. Außerdem war er im Recht: Es war sein Zimmer, und sie sollte das Bad nur wischen, nicht inspizieren.

      „Haben Sie die grüne Kordel nicht gesehen?“, sagte sie und fischte das Buch aus der Toilette.

      Wenn ein Zimmer gerade gereinigt wurde, hing eine grüne Kordel am Türknauf. Wobei natürlich auch der Wagen mit den Handtüchern und Seifen direkt neben der angelehnten Tür als Indiz dienen könnte.

      „Sie müssen sich bemerkbar machen, wenn Sie hereinkommen!“ Leo sah ihn streng an.

      „Äh …“

      Zweite Lektion: Beim Verteidigungsangriff das Gegenüber nie zu Wort kommen lassen!

      „Was glauben Sie denn, was ich hier tue? Ich wollte gerade den Wasserkasten freiräumen, um ihn sauberzuwischen.“ Hoffentlich meldete er sie nicht dem Direktor. Zimmermädchen mussten über jeden Verdacht des Herumschnüffelns erhaben sein. „In fünf Minuten bin ich fertig. Ich kann natürlich später wiederkommen, wenn Ihnen das lieber ist.“

      Der Ton macht die Musik, und Leos Ton war – ungeachtet der Worte – eher Marschmusik als eine einschmeichelnde Mozartmelodie, wie sie die Hotelleitung für solche Eventualitäten eigentlich vorsah.

      Er sah sie unsicher an. Wie so viele Raubtiere verwirrte es ihn, wenn sich ein Beutetier mit knallharter Selbstsicherheit zur Wehr setzte.

      „Nein, bitte. Machen Sie nur Ihre Arbeit“, sagte er. „Ich rauche so lange eine Zigarette auf dem Balkon. Schon gut, ich nehme es so.“

      Er nahm ihr das tropfende Buch ab und zog sich auf seinen Zimmerbalkon zurück.

      Leo atmete tief aus. Nochmal gut gegangen. Sie wollte zwar ihren Vertrag nicht verlängern, aber eine fristlose Kündigung konnte sie jetzt auch nicht gebrauchen.

      Jeden Morgen bekam sie den Belegungsplan, auf dem die Zimmer aufgeführt waren, die sie an diesem Tag reinigen musste. Darauf stand die Personenzahl pro Zimmer und ob eine Ab- oder Anreise anstand. Die Sisi-Suite war von zwei Männern belegt. Für sieben Nächte. Anfangs hatte Leo geglaubt, es müsse sich um ein schwules Pärchen handeln, möglicherweise ziemlich sicher auf Hochzeitsreise, denn die romantische Sisi-Suite wurde fast ausschließlich für diesen Zweck gebucht. Aber nachdem sie die beiden Herren zufällig vor zwei Tagen im Hotelflur in Augenschein hatte nehmen können, war eins klar: Schwul waren die nicht. Also, vielleicht doch, man wusste ja nie. Aber die beiden waren das lebende Stereotyp von zwei Hetero-Schlägern, die für ein Inkasso-Büro arbeiten. Oder für einen Mafiaboss Schutzgelder einsammeln. Etwas in der Art. Körperbau, Anzüge, Ausstrahlung – da konnte es gar keinen Zweifel geben. Vermutlich teilten sie sich nur die Sisi-Suite, weil alle anderen Suiten schon belegt waren und sie was Großes wollten, um nachts zusammen im neuesten Schlagring-Katalog zu blättern.

      Leo linste um die Ecke und putzte dann weiter.

      Und ja, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie hatte in der Suite herumgeschnüffelt. Schon vor dem Buch unter den Handtüchern. Die meisten Menschen versteckten Dinge, die die Zimmermädchen nicht finden sollten, unter den gefalteten Pullovern im Kleiderschrank. Oder in ihren Koffern. Leo hatte beim Öffnen der Koffer sehr darauf geachtet, dass da kein Haar absichtlich unabsichtlich über dem Reißverschluss lag. Aber in den beiden Carry-ons der Männer befand sich nur die Schmutzwäsche, unter ihren Pullis lagen nur weitere Pullis, und in den Kulturbeuteln hatte sie weiter nichts als das Übliche plus einer Revitalisierungscreme für Schütterhaarige gefunden.

      Leo wischte zügig die Fliesen sauber, dann verließ sie mit einem