Tatjana Kruse

Leichen, die auf Kühe starren


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bei einer Bergwanderung ums Leben gekommen war – immer Privatdetektiv gespielt hatte: verfolgen, aufspüren, deduzieren. Sie hatte es geliebt. Und die Mama auch.

      Na gut, die beiden Schläger boten also nichts Interessanteres als eine heimliche Liebe zum Heimwerken. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt. Vielleicht bot das nächste Zimmer eine faszinierende Abwechslung.

      Leo sah auf den Belegungsplan. An der Tür zur großen Kaisersuite, in der sich eine arabische Familie einquartiert hatte, hing nun schon den dritten Tag in Folge das Bitte-nicht-stören-Schild.

      Leo schob den Wagen mit den Putzutensilien und dem Nachschub an Handtüchern und Goodies über den rot-weiß karierten Teppichboden zur letzten Suite, der Bellevue-Suite. Belegung: eine Person. Abreise: noch offen. Das gab es auch nur in der Zwischensaison, dass sich jemand spontan überlegen konnte, wie lange er bleiben wollte.

      „Housekeeping“, rief Leo und klopfte an die Zimmertür. Die im selben Bruchteil der Sekunde von dem weiblichen Gast der Suite aufgerissen wurde. Leo bekam beinahe einen Herzkasper. „Oh, Entschuldigung.“

      „Nein, bitte, kommen Sie ruhig herein. Mein Zimmer hat es nötig.“

      Leo sah über die Schulter der Frau. Wenn es ein Zimmer gab, das es nicht nötig hatte, dann dieses hier. Es sah nachgerade unbewohnt aus. Nirgends lag etwas herum, sogar die Betten waren schon gemacht. Sehr ungewöhnlich. Normalerweise ließen Hotelgäste das innere Ferkel raus, warfen ihre Klamotten überallhin, zielten mit den Abfällen auf den Papierkorb und scherten sich nicht, wenn sie ihn verfehlten, und vermittelten generell den Eindruck, als hätten sie eine Bombe hochgehen lassen. Weil, man musste ja nicht selbst aufräumen und putzen. Dieses Zimmer hier wirkte dagegen klinisch rein. Gehörte die Zimmerbewohnerin zu den Menschen, die auch zu Hause immer putzten, bevor die Putzfrau kam?

      Aber auch, wenn Leo quasi nur die Betten machen und einmal über alle Oberflächen wischen musste, sie schätzte es nicht, wenn die Hotelgäste während des Reinigungsvorgangs anwesend waren. „Ich will Sie nicht stören. Ich komme später wieder.“

      „Nein, nein. Es passt gerade gut. Bitteschön. Im Bad müssen Sie nichts machen. Nur die Papierkörbe leeren. Und den Aschenbecher auf dem Balkon.“

      Die Frau trat zur Seite, um Leo einzulassen. Sie war auf den ersten Blick in Leos Alter, aber das wollte nichts heißen. Die Optik konnte täuschen. Letzte Woche hatte Leo in der Douglas-Filiale drei Blondinen gesehen, die sie von hinten für Drillinge gehalten hatte. Erst als sie an ihnen vorbei zur Kasse ging, wurde ihr klar, dass es sich um Großmutter, Mutter und Enkelin handelte. Drei Russinnen, die zweifelsohne sehr viel Geld in diese mehr oder weniger gelungene Täuschung investiert haben mussten.

      Leo seufzte, trat ein und leerte als Erstes die Papierkörbe. Die Frau hatte den kleinen Maiereimer aus dem Bad geholt und die Badezimmertür geschlossen. Leo wollte den geleerten Mülleimer wieder ins Bad stellen, da rief sie: „Schon gut. Ins Bad müssen Sie nicht. Die Handtücher benutze ich alle nochmal.“

      „Ich sollte aber …“, fing Leo an.

      „Ins Bad müssen Sie nicht!“, erklärte die Frau final.

      Leo nickte und ging zum Bett. Beim Aufschütteln der Bettwäsche sah sie aus den Augenwinkeln zu der Frau, die es sich in der Wohnecke der Suite bequem gemacht hatte. Sie lag sehr elegant auf der Couch und blätterte in der Vogue. Leo hatte in ihrem ganzen Leben noch nie so elegant auf einer Couch gelegen. Es war eine Fotoshooting-Pose. Sie mochten ungefähr gleich alt sein, aber die Frau wirkte definitiv so, als habe sie ihren Lifestyle schon gefunden. Und der buchstabierte sich L-u-x-u-s.

      Jetzt sah sie auf.

      Rasch klopfte Leo die Daunendecken platt und platzierte Überdecke und Deko-Kissen in einer fest vorgeschriebenen Formation.

      Die Bellevue-Suite war eigentlich keine richtige Suite. In einem großen Fünf-Sterne-Haus wäre sie allenfalls als Juniorsuite durchgegangen. Zwar sehr geräumig, aber eben nur ein großes Zimmer mit Schlaf-, Arbeits- und Wohnbereich, an das sich ein Flur mit zwei Kleiderschränken und ein luxuriöses Bad mit Wanne und Regenwalddusche anschlossen. Nicht einmal halb so groß wie die Sisi-Suite. Von der Kaisersuite ganz zu schweigen. Was die Bellevue-Suite auszeichnete, war – wie der Name schon sagte – die schöne Aussicht. Direkt auf den Hahnenkamm. Wo an diesem diesigen Samstagvormittag noch nicht viel los war. Und selbst wenn, durch den Dunst hätte man es nicht gesehen. Morgen würde das anders sein, da gab es Brunch und Remmidemmi mit Band – alle Gondelfahrten zum halben Preis.

      „Wirklich schön hier“, sagte die Frau, die erst zum Hahnenkamm und dann zu Leo schaute. „Ich bin übrigens Irina.“

      Leo hielt inne. Fraternisierung mit den Gästen? Sie hatte das ungute Gefühl, dass das von der Hotelleitung nicht gern gesehen wurde. Untergekommen war ihr so ein Fall noch nie. Normalerweise bemerkten die Gäste sie nicht einmal.

      „Luisa. Aber nennen Sie mich Leo.“

      Irina lächelte. „Sind Sie von hier?“

      Leo nickte bejahend, sagte aber: „Nein, ich arbeite nur hier.“

      Sie sah Irinas irritierten Blick. „Entschuldigung. Meine Familie stammt von hier, schon in x-ter Generation. Nur ich bin woanders aufgewachsen.“ Sie staubwischte die Holzoberflächen, von denen es viele gab. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“

      Irina schaute versonnen zum Berg. „Nur hier im Hotel. In Kitzbühel war ich bereits einmal. Ich … wir waren vor einem halben Jahr ein paar Tage in der Gegend, bis …“ Sie stockte. Holte dann tief Luft, schien sich mit aller Gewalt zusammenzureißen. „Aber dann hatten wir einen Autounfall.“

      „Das tut mir sehr leid. Ein schlimmer Unfall?“ Blöde Frage. Es war doch offensichtlich. Irina wirkte plötzlich eingefallen und blutleer. Ein kleiner Kratzer an der Stoßstange nahm einen nicht so mit.

      „Für mich ging es glimpflich aus, aber … Jimmy … mein Mann ist im Wagen verbrannt.“

      Vor Leos innerem Auge tauchten plötzlich die Schlagzeilen in der TT, der Tiroler Tageszeitung, auf. Und vor ihrem inneren Ohr hörte sie die Sprecherin beim ORF sagen: „Der berüchtigte deutsche Schwerkriminelle Jimmy Maier ist bei einem schweren Autounfall in Tirol ums Leben gekommen. Seine völlig verkohlte Leiche wurde von seiner Begleiterin, die nur überlebte, weil sie bei dem Unfall aus dem Wagen geschleudert wurde, identifiziert.“

      Es passierte nicht viel Schlimmes hier in Tirol, und das Spektakuläre merkte man sich ohnehin. Es war noch lange darüber berichtet worden, wie es sein konnte, dass ein Auto, das vermutlich wegen überhöhter Geschwindigkeit von einer Bergstraße abkommt, so dermaßen in Flammen aufgehen kann, dass der Fahrer bis zur Unkenntlichkeit verbrennt. Wenn Leos Erinnerung sie nicht täuschte – sie hatte damals eine kurze Stippvisite bei ihrer Oma gemacht –, wurde von offizieller Seite abschließend erklärt, dass der Mann – ein übles Subjekt: Frauenhändler, Rauschgiftschmuggler, Mehrfachmörder, jedoch nie überführt – offenbar leicht entzündliche Materialien für den Bau einer Bombe mitgeführt haben musste. Es ging das Gerücht um, er habe damit einen Konkurrenten ausschalten wollen.

      All diese Erinnerungsfetzen huschten im Bruchteil einer Sekunde durch Leos Gehirn. Und zeigten sich anscheinend in ihren Gesichtszügen, denn Irina lachte auf. „Sie haben das damals mitbekommen, oder? Mein Jimmy hat mit seinem Tod für ziemlichen Wirbel gesorgt.“ Sie legte die Vogue beiseite und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihre Haut blieb allerdings bleich, aber das lag wohl am Alabasterteint. „Okay, zugegeben, Jimmy hat ein paar krumme Dinger gedreht. Aber er war kein kriminelles Schwergewicht. Das war nur üble Nachrede der Konkurrenz. Er hat nie jemanden umgebracht. Und zu mir war er immer gut. Einfühlsam und liebevoll.“

      Es gab strenge Zeitvorgaben, wie viel Zeit man für die Reinigung eines Zimmers benötigen durfte. Und die Hausdame kontrollierte das auch. Entweder über die Flur-Kameras oder indem sie persönlich vorbeikam. Dennoch brannte die Neugier in Leo. „Mein Beileid. Und Sie wollen jetzt noch einmal Abschied von Ihrem Mann nehmen?“

      Irina nickte. „Genau. Wir waren lange zusammen, und … ja … ich musste einfach nochmal herkommen. Er