holte Papier und den Tintenfüllhalter und schrieb die Auftragsbestätigung. Ihre erste, seit sie selbstständig arbeitete! Als sie die vereinbarte Summe einsetzte, zögerte sie. Bisher hatte sie nur gegen Naturalien genäht. Wenn sie jetzt Geld nahm und Frau Girke später eine Rechnung über die Summe ausstellte, würde sie diese nicht nur versteuern, sondern auch ein Gewerbe anmelden müssen. Als ehemaliger Angehöriger der preußischen Armee legte ihr Vater großen Wert auf ein korrektes Verhalten, wovon auch Hedwig geprägt worden war. Sie hatte keine Ahnung, was für Folgen es für sie haben könnte, wenn sie das Geld einfach einstrich. Trotzdem wollte sie sich diesen Auftrag nicht entgehen lassen.
Nachdem auch Frau Girke unterschrieben hatte, nahm Hedwig Maß, notierte jede Zahl in ihrer geraden, gestochen scharfen Schrift in einem Buch, ebenfalls die Wünsche der Kundin bezüglich des Schnittes und der Verzierungen. Hedwig konnte kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen. Sie würde sehr konzentriert und exakt vorgehen müssen. Ein falscher Schnitt, eine falsche Naht – und die kostbare Seide wäre ruiniert.
Hedwig arbeitete bis spät in die Nacht hinein. Die Tage wurden zunehmend kürzer, der erste Frost war gekommen, und schon lag der Geruch nach Schnee in der Luft. Nach drei Wochen konnte Frau Girke die fertige Bluse abholen. Sie probierte sie gleich an, betrachtete sich im Spiegel, drehte sich wie ein junges Mädchen im ersten Ballkleid und rief:
»Wie wunderschön! Sie haben eine sehr gute Arbeit geleistet, Fräulein Mahnstein, und ich werde Sie allen meinen Bekannten und Freundinnen weiterempfehlen.«
Den vereinbarten Arbeitslohn bezahlte Frau Girke in bar. Hedwig hielt die Scheine zwischen den Fingern, als sie der Frau durch das Fenster nachsah. Sie wusste, sie musste zumindest einen Teil des Geldes ihrem Vater geben. Hermann Mahnstein würde es aber nur wieder ins Wirtshaus tragen, dabei benötigten Paula und Anna für den Winter neue Schuhe. Da Paula auf ihre Sachen wenig achtgab, waren deren Schuhe immer so abgetragen und abgestoßen, dass weder Luise noch Anna sie mehr auftragen konnte. Entschlossen steckte Hedwig die Scheine in ihre Rocktasche. Die Eltern hatten zwar mitbekommen, wie Hedwig die Bluse nähte, über den Lohn dafür hatte Hedwig jedoch geschwiegen. Sie würde das Geld nicht für sich verwenden, sondern sparen, um das Notwendigste für die Geschwister zu kaufen, außerdem brauchte sie neue Nähnadeln, Nähgarn und Schneiderkreide. Manchmal leistete Hedwig sich eines der Modemagazine, die am Zeitungsstand beim Bahnhof verkauft wurden. Die Rocksäume der Damen waren kurz wie nie zuvor, endeten auf der Wade, bei jungen Damen bis etwa zwanzig bereits am Knie. Die Taille verschwand immer mehr aus der aktuellen Mode, die Gürtellinie verschob sich unter die natürlichen Taillen, was den Kleidern ein sackartiges Aussehen verlieh. Hedwig wusste nicht, ob ihr das gefiel, verbarg die neue Mode doch die weiblichen Formen, und alle Frauen schienen gleich auszusehen. Die weiten, luftig geschnittenen Ärmel, Fledermausärmel genannt, waren sicher sehr bequem. Kostümjacken und Mäntel wurden nun gern mit überlappenden, teilweise geschlitzten Flugärmeln belebt, was den ansonsten schlichten Kleidungsstücken eine interessante Note gab. In ein Korsett ließen sich nur noch alte, konservative Frauen zwängen, Hedwig hatte noch nie eines getragen. Ihr Rock reichte aber nach wie vor bis zum Knöchel, so wie bei allen Frauen in der Stadt.
Die gezeigte Mode in den Hochglanzmagazinen war nur etwas für die Städter, auf dem Land würden sich die kurzen Röcke niemals durchsetzen. Bei der Vorstellung, wie eine Bäuerin mit knielangem Rock Kartoffeln aus dem Erdreich harkte, grinste Hedwig. Verkäuferinnen und Büroangestellte konnten sich solche Extravaganzen vielleicht leisten, daher würde Hedwig die Entwicklung weiter verfolgen, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Vielleicht konnte sie aus einem alten Vorhang oder einer aussortierten Tischdecke den Versuch wagen, für sich einen wadenlangen Rock anzufertigen, sozusagen als Versuchsobjekt, in der Öffentlichkeit tragen würde sie ihn ohnehin nicht.
VIER
Bass erstaunt blieb Hedwig auf der Schwelle stehen und starrte in den großen Raum, der sich vor ihr ausbreitete. Der Boden fiel in Richtung der Bühne leicht ab, die Stühle waren mit rotem Stoff bezogen und längs den Wänden spendeten Lampen ein schummriges Licht.
»He, da vorne, weitergehen! Wir wollen auch noch rein, bevor der Film anfängt.«
Jemand schubste Hedwig von hinten, und sie griff nach der Hand ihrer Schwester Luise.
»Ich habe nicht gedacht, dass es so groß ist.«
Luise grinste spitzbübisch. »Als ich vor zwei Wochen das erste Mal im Lichtspielhaus gewesen bin, war ich ebenso beeindruckt. Es wird dir gefallen.«
»Trotzdem hättest du deinen Lohn nicht ...«
»Es ist das erste Geld, das ich selbst verdient habe«, fiel Luise Hedwig ins Wort. »Davon darf ich meine große Schwester auch einladen. Da ich nicht länger zu Hause wohne, brauche ich meinen Lohn nicht an Vater abzuliefern und kann damit machen, was ich will. Als ich mit den Kindern der Wichmanns den Film angesehen habe, dachte ich, dass er dir bestimmt auch gefällt. Du hast dir diese Abwechslung mehr als verdient, du rackerst dich tagtäglich für die Familie ab, dazu noch die nächtelangen Näharbeiten.«
»Das Nähen macht mir Freude«, antwortete Hedwig. »Mit keiner anderen Tätigkeit möchte ich meinen Beitrag zum Haushalt leisten.«
»Einen Beitrag, der von Vater direkt in Schnaps umgesetzt wird«, erwiderte Luise und brachte die Lage schonungslos auf den Punkt. »Schau nicht so erstaunt, Hedi. Ich mag zwar erst vierzehn sein, aber ich bin weder blind, taub noch weltfremd. Alle Männer trinken hin und wieder einen über den Durst, die Nächte, in denen Vater nüchtern nach Hause kommt, werden aber immer seltener.«
»Es ist seine Arbeit«, flüsterte Hedwig. Sie wollte nicht, dass ihre Unterhaltung von jemandem mitangehört wurde. »Es ist nicht einfach, aussortiert und beiseite geschoben zu werden.«
Die Schwestern mussten ihre Unterhaltung abbrechen, da immer mehr Menschen in den Saal drängten. Sie wählten zwei Plätze in der vierten Reihe im Parkett. Hedwig versank in den bequemen Sesseln und begann sich zu entspannen. Von einem Besuch im Lichtspielhaus hatte sie schon lange geträumt, sich bisher aber eine solche Extravaganz nicht geleistet. Umso dankbarer war sie über die Einladung der Schwester, auch wenn sie dabei ein schlechtes Gewissen hatte. An Ostern hatte Luise die Schule beendet und war im Haus des Oberstudienrates Wichmann in Stellung gegangen. Dort war sie als Mädchen für alles tätig und kümmerte sich auch um die Kinder der Familie. Aufgewachsen im Kreis zahlreicher Geschwister verstand sich Luise bestens mit den zwei Jungen und dem Mädchen, die zwischen sieben und dreizehn Jahre alt waren. Vor zwei Wochen hatte Frau Wichmann Luise gebeten, mit den Kindern ins Lichtspielhaus zu gehen. Neben der Haushaltsführung des Oberstudienrates, in dem regelmäßig Gäste bewirtet wurden, engagierte sich Frau Wichmann in zahlreichen sozialen Organisationen, was sie oft von zu Hause fernhielt.
»Du hast den Film doch schon gesehen, ist es denn nicht langweilig für dich?«, raunte Hedwig ihrer Schwester ins Ohr. Unwillkürlich flüsterte sie, denn die Atmosphäre in dem Saal mit dem gedämpften Licht war fast wie in der Kirche.
Luise schüttelte lachend den Kopf. »Die Handlung ist lustig, und ich werde sicher wieder an denselben Stellen lachen.«
Gezeigt wurde die Komödie Kohlhiesels Töchter. Der Stummfilm war zwar drei Jahre alt, aber erst Anfang dieses Jahres hatte das Lichtspielhaus in Sensburg eröffnet. In Nikolaiken und in Allenstein gab es schon seit Jahren Filmtheater, und Hedwig hatte von Leuten gehört, die extra in diese Städte fuhren, um die Vorstellungen zu besuchen.
Nun glitt der schwere, schwarze Vorhang zur Seite, gab den Blick auf eine weiße Leinwand und einen Flügel auf der Bühne frei, dann erlosch das Licht vollständig. Ein Schatten schritt über die Bühne, setzte sich an den Flügel, und gleich darauf erklang eine beschwingte Melodie, die den Anfang der bewegten Bilder auf der Leinwand begleitete. Der rund einstündige Film war wirklich komisch, das Publikum lachte laut, Texte wurden eingeblendet, und alles wurde von den Melodien des Klavierspielers untermalt. Viel zu schnell war die Vorführung beendet. Als das Licht anging, blinzelte Hedwig mehrmals und kehrte nur langsam in die Realität zurück.
»Wir hätten Anna mitnehmen sollen«, sagte sie.
»Ich habe Vater gefragt,