Rebecca Michéle

Der Weg der verlorenen Träume


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und Schenk feierte mit dem Lied Ain’t We Got Fun große Erfolge und in Königsberg haben wir jeden Abend auf Margie von Eddie Cantor getanzt. Hör, Hedi, ich summe es dir vor.«

      Atemlos lauschte Hedwig der kleinen Melodie, die in ihren Ohren fremd klang. Weder die Lieder noch die Namen der Interpreten kannte sie, spürte aber die tiefe Verbundenheit, die Albert zu der modernen Musik von jenseits des Ozeans empfand.

      »Leider sind in Deutschland Tonaufnahmen aus den Staaten nur schwer zu bekommen und wenn, dann sind sie furchtbar teuer.« Er seufzte und lächelte gleichzeitig. »In Königsberg gibt es immer jemanden, der ein Grammophon und die neuesten Platten aus den Staaten hat. Hier jedoch …«

      »Willst du nach Königsberg zurückgehen?«, fragte Hedwig erschrocken, denn Albert würde ihr fehlen, wenn er Sensburg verlassen würde.

      »Nicht in naher Zukunft«, antwortete er zu Hedwigs Erleichterung. »Ich bin noch jung und sehe den Dingen, die das Leben für mich bereithält, mit Spannung entgegen. Irgendwann wird meine Chance kommen.«

      Hedwig legte eine Hand auf seinen Arm und sagte: »Dessen bin ich sicher, Albert. Du bist der beste Musiker, den ich kenne.«

      Er lachte laut und erwiderte: »Herzlichen Dank für das Kompliment, aber Hedi: Wie viele Musiker kennst du überhaupt? Ich meine, Musiker, die sich mit der leichten Muse beschäftigen?«

      »Äh … ja … also … Du bist der Einzige«, musste Hedwig zugegeben. Er grinste und fuhr fort:

      »Dir kann ich es ja verraten, Hedi, ich habe bereits Dutzende an Melodien und Texten in der Schublade, nur kenne ich niemanden, der daran Interesse zeigen könnte oder gar mutig genug ist, deutschsprachige Schlager aufzunehmen. Mir fehlen einfach die notwendigen Beziehungen.«

      »Ich bin sicher, du wirst es schaffen«, sagte Hedwig überzeugt. »Du musst nur fest an dich glauben und nicht locker lassen.«

      Albert runzelte die Stirn und sah Hedwig ernst an. »Wenn du dieser Meinung bist – warum bewirbst du dich dann nicht an der Meisterschule?«, wechselte er das Thema. »Du bist volljährig, deine Eltern können es dir nicht länger verbieten.«

      Hedwig hatte ihm von dem Vorschlag ihrer früheren Lehrherrin, sich zur Schneidermeisterin ausbilden zu lassen, erzählt.

      »Selbst wenn ich die Aufnahmeprüfung bestehe, weiß ich nicht, wie ich die Zeit der Ausbildung finanzieren sollte«, gab Hedwig offen zu und seufzte. »Die Schule ist in Allenstein, ich müsste in der Stadt wohnen und mich dort verköstigen. Ich denke nicht, dass ich neben der Ausbildung durch Näharbeiten genügend verdienen würde. Außerdem muss ich mich um meine Mutter und den kleinen Bruder kümmern, und dann ist da noch der Haushalt ...«

      »Tja, dann sehen wir beide derzeit in eine ungewisse Zukunft.« Albert sprang auf und reichte Hedwig seine Hände. Seine dunklen Augen schimmerten sanft. Sie ließ sich von ihm auf die Füße ziehen, und er meinte grinsend: »Irgendwie sind wir beide Künstler, die von niemandem unterstützt werden. Wir sollten uns zusammentun.«

      Langsam zog er Hedwig an sich. Ihr Herz pochte im Hals, der plötzlich staubtrocken war, sie ließ es aber geschehen, dass Alberts Lippen sich auf ihre legten. Es war Hedwigs erster Kuss, und die Sonne schien plötzlich noch strahlender.

      »Autsch!« Hedwig schrie leise auf, als die Nadel in ihren Finger fuhr. Hastig schob sie mit der anderen Hand den Stoff weg, damit kein Blutstropfen die helle Baumwolle verdarb. Sie arbeitete am Kragen einer Bluse der Nachbarin, und seit Monaten war es nicht mehr vorgekommen, dass sie sich beim Nähen gestochen hatte. Am verletzten Finger lutschend beschloss Hedwig, die Arbeit für heute zu beenden. Es war gleich Mitternacht, außerdem war sie den ganzen Abend über nicht bei der Sache gewesen. Seit Albert sie heute geküsst hatte, schlugen ihre Gedanken Purzelbäume. Beim Zubereiten des Abendessens hatte sie die Suppe beinahe mit Zucker anstatt mit Salz gewürzt, und es wollte ihr nicht gelingen, auch nur eine Minute nicht an Albert zu denken. War sie in den jungen Musikus verliebt? War das Gefühl, als würden Dutzende von Schmetterlingen in ihrem Magen tanzen und warme Wellen sie durchfluten, Liebe? Oder war es nur, weil Albert der erste Mensch war, der ihr wirklich zuhörte, der ihre Probleme, aber auch Träume und Hoffnungen ernst nahm? Hedwig wusste nichts von der Liebe. Nie zuvor hatte ihr Herz beim Anblick eines Mannes schneller geschlagen, nie zuvor hatte sie sich gewünscht, jeden Moment des Tages an der Seite des anderen zu verbringen. Erst am Montag würde sie Albert wiedersehen, denn ein anderer Klavierspieler war für die Wochenenden engagiert. Drei Tage, die für Hedwig scheinbar endlos vor ihr lagen, dabei hatte sie sich sonst immer auf das Wochenende gefreut.

      Bei allem Herzklopfen verschloss Hedwig aber nicht die Augen vor der Tatsache, dass Albert kein Wort über eine gemeinsame Zukunft verloren hatte. Seine Musik wollte er in die Welt hinaustragen, nun ja, zumindest in das gesamte Deutsche Reich. Masuren war für einen begnadeten Künstler wie Albert zu klein, zu beschaulich, hier würden die Leute noch lange nicht bereit sein, sich auf Neues einzulassen, besonders nicht, wenn es aus Amerika kam. Hedwig vermutete, dass Albert in Berlin größere Chancen hätte, seine Träume zu verwirklichen. Ihn ziehen zu lassen, würde sie zwar traurig stimmen, aber sie hatte kein Recht, ihn in der Heimat zu halten.

      Hedwig löschte die Lampe und schlich über den Korridor zu ihrem Zimmer. Dort zog sie sich im Dunkeln aus und ihr Nachthemd an, um Anna nicht zu wecken, die hinter dem Vorhang, der den Raum abteilte, schlief. Nachdem Paula das Haus verlassen hatte, hatte Hedwig sich in deren und Luises früherem Zimmer eine kleine Schneiderwerkstatt eingerichtet, um bei ihrer abendlichen Arbeit niemanden zu stören.

      Die Frage Alberts, warum sie nicht versuchte, ihren Traum, Meisterin zu werden, Realität werden zu lassen, ließ sie keinen Schlaf finden. Der verhaltene Klang der Kirchturmuhr schlug die dritte Stunde, als Hedwig den Entschluss fasste, sich bei der Schule zu bewerben. Die Aufnahmeprüfung stellte eine große Hürde dar, vielleicht war sie gar nicht gut genug, diese zu bestehen. Dann hatte sie es aber versucht und würde sich nicht für den Rest ihres Lebens Vorwürfe machen, diese Chance nicht wahrgenommen zu haben. Sollte sie die erste Hürde bewältigen, würde sich für die Ausbildung eine Lösung finden lassen.

      »Hedi, man bringt alles fertig, wenn man es nur ernsthaft will und nichts unversucht lässt«, hatte Albert gesagt. »Ich will und ich werde Musik machen, solange ich lebe, und nichts und niemand wird mich davon abhalten.«

      Hedwig bewarb sich heimlich. Als der Brief mit der Nachricht kam, sie würde für die Prüfung zugelassen, wäre sie am liebsten laut singend durch das Haus getanzt – wäre da nicht ihre Angst vor dem Gespräch mit den Eltern gewesen. Wie von Hedwig erwartet, reagierte Hermann Mahnstein erst ungläubig, dann fassungslos und schließlich entsetzt, als er feststellte, dass Hedwig sich nicht würde umstimmen lassen.

      »Dann fahr doch hin und versuch es«, schrie Hermann Mahnstein so laut, dass der kleine Siggi zu weinen begann und die Hände fest auf die Ohren presste. »Du wirst es ohnehin nicht schaffen. Das bisschen Nähen reicht vielleicht für den Hausgebrauch, wenn das Fräulein aber Meisterin werden will, wird dir die Prüfung diese Flausen schnell austreiben. Vor dem Komitee wirst du versagen und ausgelacht werden.«

      Jetzt war Hedwig noch fester entschlossen, es unter allen Umständen zu schaffen. Tatsächlich bestand sie die Aufnahmeprüfung auf Anhieb. Niemand lachte sie aus, im Gegenteil. Das Komitee, alles Männer, wie Hedwig befremdlich feststellte, zeigte sich von ihrer Prüfungsarbeit begeistert und meinte, selten hätten sie so gerade und exakte Nähte gesehen. Dann kam Hedwig der Zufall zu Hilfe, an dem Albert maßgeblich beteiligt war: In einer Kapelle eines Hotels in Allenstein hatte er ein mehrmonatiges Engagement erhalten. Allabendlich wurde den Gästen zum Tanz aufgespielt und an den Wochenenden gab es regelmäßig große Festivitäten und Hochzeiten.

      »Das Hotel sucht für die Küche Aushilfskräfte«, hatte Albert ihr mitgeteilt. »Ich weiß, tagsüber die Schule und abends und am Wochenende die Arbeit im Hotel – das wird sehr anstrengend werden, es ist aber eine Möglichkeit, deinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Außerdem hast du im Hotel Kost und Logis frei.«

      Bei diesem Vorschlag hatte Hedwigs Herz zwar schneller geschlagen, sie war aber nicht übermütig geworden. Das war nicht ihre Art, und ihr Großvater hatte immer gesagt, man möge das