Rebecca Michéle

Der Weg der verlorenen Träume


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kam postwendend und, wie so oft, ließ er Hedwigs Absage nicht gelten und schrieb, er stehe an dem besagten Tag vor ihrer Tür – sollte sie bereit sein oder nicht.

      Luise war die Einzige, mit der Hedwig über Albert sprechen konnte. Auch wenn die Schwester sechs Jahre jünger war, wirkte sie erfahren und reif, und Luise sagte auch prompt: »Was will der Dombrowski von dir und, vor allen Dingen, was willst du von ihm, Hedi?«

      »Wir sind nur Freunde«, antwortete Hedwig ausweichend. »Ohne Alberts Hilfe hätte ich nie die Meisterschule besuchen können.«

      Luise sah ihre Schwester aufmerksam an und meinte: »Wenn du zu dem Ball gehen willst, dann mach es. Bei dieser Gelegenheit könntest du Kontakte knüpfen, die dir neue Kunden bescheren. Das Schloss liegt von Sensburg nicht allzu weit entfernt.«

      Hedwig lachte schallend. »Eine Gräfin von Duwensee oder jemand aus deren Bekanntenkreis wird wohl kaum bei einer einfachen Provinzschneiderin ihre Garderobe anfertigen lassen.«

      »Einer Schneidermeisterin«, erinnerte Luise ihre Schwester mit mahnend erhobenem Zeigefinger. »Du fertigst wunderbare Kreationen an, Hedi. Um die Bluse, die du mir aus dem alten Stoff, den Frau Wichmann mir freundlicherweise überlassen hat, genäht hast, beneidet mich jeder.«

      Die Schwester übertrieb nicht. Kaum, dass Luise das Kleidungsstück getragen hatte, war Frau Wichmann zu Hedwig gekommen und hatte um eine ähnliche Bluse gebeten. Als Beamter im Schuldienst war Herr Wichmann finanziell gut gestellt, sodass Hedwig für diese Arbeit einen anständigen Lohn erhielt. Zwei Tage später kam die Cousine von Frau Wichmann zu Hedwig, dann deren Nachbarin. In den vier Wochen seit Hedwigs Heimkehr hatte sie bereits drei neue Kundinnen gewonnen. Hermann Mahnstein konnte sich nicht länger dagegen verwehren, dass seine Tochter eine anerkannte Schneiderin war, was auch zusätzliches Geld in die Haushaltskasse spülte.

      Hedwigs Tagwerk begann bei Sonnenaufgang. Sie versorgte die Hühner und sammelte die Eier ein, bereitete das Frühstück zu, weckte ihre Geschwister, kontrollierte, ob Anna und Fritz ordentlich gewaschen und angezogen waren, schickte sie zur Schule, erledigte dann die Hausarbeit und kümmerte sich um Siggi, der ihr auf seinen kurzen, strammen Beinen überall hin nachlief und ständig beschäftigt werden wollte. Anna, inzwischen fünfzehn Jahre alt, hatte sich im letzten Jahr gut entwickelt. Aus dem zarten, oft kränkelnden Mädchen war eine hübsche und gesunde junge Frau geworden. Anna war nicht nur die Attraktivste der Mahnsteinschwestern, sondern auch die Klügste.

      Bedingt durch ihre frühere Schwäche hatte Anna ihre Nase ständig in Bücher gesteckt, sie lernte gern und leicht, sodass die Schule eine Empfehlung für die höhere Mädchenschule ausgesprochen hatte. Erfreulicherweise hatte Hermann Mahnstein keine Einwände erhoben, Hedwig wusste aber schon lange, dass Anna Vaters Liebling war. Sie war frei von Neid und liebte Anna ebenso wie alle ihre Geschwister. Nun ja, wenn Hedwig ehrlich zu sich war, dann empfand sie es als angenehm, dass Paula und ihre spitze Zunge in Königsberg gut aufgehoben waren, und Luise stand ihr am nächsten. Ihr Bruder Karl hatte die Universität abgeschlossen und eine Anstellung in der Fliegerschule am gegenüberliegenden Ufer des Schoß-Sees bekommen, bei der er als technischer Zeichner arbeitete. Auch Fritz machte sich Gedanken um seine Zukunft, er wollte einen Handwerksberuf erlernen, schwankte derzeit aber noch zwischen Schreiner und Maler und Lackierer.

      So war für alle gesorgt, nur ihre Mutter machte Hedwig zunehmend Kummer. Es gab Tage, an denen Auguste beinahe schmerzfrei war, dann kümmerte sie sich um den Haushalt, machte die Wäsche, kochte und buk. Immer öfter jedoch traten die Schübe auf, die Augustes Gelenke versteiften, an manchen Tagen konnte sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen. An ihren freien Tagen half Luise, worüber Hedwig sehr dankbar war, auch wenn sie die Schwester schalt, sie möge ihre Freizeit doch genießen und nicht auf allen vieren über den Boden kriechen, um die Bohlen zu schrubben.

      »Ich liebe die Hausarbeit und mache das sehr gern«, antwortete Luise eine Einstellung, die Hedwig nicht teilen konnte. Auch sie war eine gute Hausfrau, würde aber auch ohne Putzen und Wäschewaschen durchaus gut leben können.

      Skeptisch betrachtete Hedwig ihr Spiegelbild. Das Kleid aus dunkelblauer Spitze schmiegte sich eng um ihre Taille, bauschte sich dann über den Satinunterrock und endete knapp über den Knöcheln. Die Ärmel waren aus durchbrochenem Stoff geschneidert und ließen ihre helle Haut durchschimmern. Über das Dekolleté legte sie nun noch ein graues Tuch. Hedwig hatte ihre braunen Haare aufgesteckt, ein paar Strähnen aber erlaubt, sich in ihrem Nacken zu kringeln. Sie nahm die Brille ab und musste die Augen zusammenkneifen, um ihr Spiegelbild sehen zu können. Hedwig seufzte und setzte die Brille wieder auf. Sie würde nicht zugunsten der Schönheit halb blind durch die Gegend laufen und von dem Abend kaum etwas mitbekommen. Sie zupfte noch einmal das Schultertuch zurecht, dann trat sie zufrieden zurück. Das Sonntagskleid ihrer Mutter war Auguste seit ihrer letzten Schwangerschaft zu eng geworden, so hatte Hedwig es auf ihre Größe abgeändert. Der fließende Stoff umschmeichelte zwar ihre schlanke Figur, aber es war kein passendes Kleid für eine Abendgesellschaft in einem herrschaftlichen Schloss.

      Entschlossen straffte Hedwig die Schultern. Albert wusste über ihre Familie und ihre finanzielle Situation Bescheid, und wenn die anderen sie aufgrund ihrer Garderobe missbilligend behandeln sollten, würde sie sie nicht beachten. Mit diesen Leuten hatte Hedwig nichts zu tun, und nach dem Abend würde sie wohl kaum jemanden wiedersehen.

      Hermann Mahnstein hatte mit fassungslosem Entsetzen auf die Mitteilung, Hedwig würde mit Albert von Dombrowski einen Ball auf Schloss Duwensee besuchen, reagiert. Wobei die Tatsache, wer ihr Begleiter war, ihn mehr überraschte als die Einladung seiner Tochter durch eine Gräfin.

      »Ich wusste nicht, dass du und der Dombrowskisprössling miteinander in Kontakt stehen«, hatte Hermann grollend gesagt.

      »Wir trafen uns zufällig in Allenstein wieder«, antwortete Hedwig und mied den direkten Blickkontakt zu ihrem Vater.

      »Hat er dir einen Antrag gemacht?«, fragte Hermann Mahnstein. »Wenn ja, wann hält der Bursche es für angebracht, mich, deinen Vater, um deine Hand zu bitten?«

      Erschrocken wich Hedwig zurück und rief: »Albert und ich sind nur Freunde! Ich habe ohnehin nicht vor, in den nächsten Jahren zu heiraten.«

      »Ach, du willst wohl ein Blaustrumpf werden, Hedwig?« Missbilligend glitt Hermanns Blick über seine Tochter. »Na ja, eine Schönheit bist du nicht gerade, aber jeder Topf findet irgendwann seinen Deckel. Selbstständige Frauen sind bei den Männern nicht gefragt, aber bevor ich diesen Musikus, der von der Hand in den Mund lebt, als Schwiegersohn in meinem Haus begrüße, ist es mir tatsächlich angenehmer, wenn du unverheiratet bleibst. Außerdem brauchen wir dich hier im Haus.«

      Hedwig ließ sich nicht anmerken, wie sehr seine Worte sie verletzten und antwortete entschieden: »Zwischen Albert und mir ist das Wort Heirat niemals gefallen, uns verbindet lediglich eine Kameradschaft. Ich weiß, du missbilligst, dass ich mit einem Mann ausgehe, mit dem ich nicht verlobt bin. Bitte, Vater, lass mich aussprechen!« Hedwig erhob ihre Stimme, als Hermann sie unterbrechen wollte. »Die Zeiten haben sich geändert, und du solltest so viel Vertrauen in deine Tochter haben, dass sie der Familie keine Schande machen wird.«

      »Was soll nur aus dieser Welt werden, wenn die Kinder den Respekt vor den eigenen Eltern verlieren und ihnen Widerworte geben?« Fassungslos schüttelte Hedwigs Vater den Kopf. »Daran ist nur diese vermaledeite Schule in Allenstein schuld, die dich durch und durch verdorben und zu einer aufwieglerischen Frau gemacht hat. Wer weiß, mit wem du dich da herumgetrieben und was du sonst noch angestellt hast. Ich hätte dir diese Ausbildung niemals erlauben sollen.«

      »Ich bin mündig und für mein Leben selbst verantwortlich«, entgegnete Hedwig entschlossen, obwohl seine Worte wie schmerzhafte Nadelstiche in ihrem Herzen waren. »Tag für Tag bin ich für euch da, kümmere mich um Mutter und um Siggi, halte das Haus und die Wäsche sauber, versorge die Hühner und den Garten, daneben nähe ich oft bis in die frühen Morgenstunden und unterstütze damit die Familie auch finanziell. Ich bin fest entschlossen, den heutigen Abend zu genießen, denn es ist das erste Mal, dass ich zu einem Ball gehe, und du wirst mir diese Freude nicht vermiesen, Vater.«

      »Wie kannst du es wagen, in einem solchen Ton mit deinem Vater zu sprechen?«