auf ihr Angebot einging. Marianne von Kosin ging zur Tür und öffnete sie, das Zeichen, dass ihre Unterhaltung beendet war.
Hedwig kehrte in den Ballsaal zurück und suchte nach Albert. Die Freude an dem Fest war ihr vergangen, sie wollte ihn bitten, nach Hause zu fahren. Durch den reichlichen Alkoholgenuss war die Stimmung laut und ausgelassen geworden. Sie fand Albert am Klavier sitzend, den Hemdkragen geöffnet, die Haare zerzaust, und er spielte die flotte Melodie eines Charleston, zu dessen Klängen die Gäste tanzten, darunter auch Alexander von Kosin. Eine dunkelhaarige, hübsche junge Frau warf ihre Arme um Alexanders Hals und genierte sich nicht, ihn vor allen Augen mitten auf den Mund zu küssen. Um die beiden herum bildete sich ein Kreis, unter lautem Klatschen und Johlen wurde das Paar angefeuert. Mit ihrem Unterkörper beschrieb die Frau eindeutige Bewegungen, der gierige Glanz in Alexanders Augen ließ keinen Zweifel an seinen Gedanken. Hedwig hatte nun endgültig genug. Ein solches Verhalten hatte sie nie zuvor mit ansehen müssen, und sie fragte sich, wie eine Frau sich derart gehen lassen konnte. Sie war total betrunken und enthemmt, der Alkohol hatte sie nicht mehr Herr ihrer Sinne sein lassen. Aber nicht nur diese Entgleisung, sondern auch das Verhalten fast aller Gäste schockierte Hedwig. War in diesen Kreisen so etwas üblich? Wo waren Anstand, Würde und Moral geblieben? Auguste Mahnstein würde auf der Stelle der Schlag treffen, wenn sie erfahren würde, in welche Kreise Hedwig geraten war.
Ohne von jemandem beachtet oder gar aufgehalten zu werden, holte Hedwig ihren Mantel aus dem kleinen Raum neben der Halle und eilte aus dem Haus. Draußen atmete sie tief durch. Die Luft schnitt zwar kalt in ihre Lungen und sie fror in ihrem dünnen Kleid, ins Haus wollte sie aber auf keinen Fall zurückkehren. Albert hatte den Wagen nicht abgeschlossen. Hedwig wickelte sich in eine im Fond liegende Wolldecke und kauerte sich auf dem Beifahrersitz zusammen. Für einen Moment überlegte sie, zu Fuß nach Sensburg zu laufen, es siegte aber ihr klarer Verstand. Der Weg war weit, und weder ihre leichten Lederschuhe noch ihr Mantel waren für einen so langen Marsch durch die eiskalte Nacht geeignet. Wenn nötig, würde sie die ganze Nacht im Wagen auf Albert warten, bis er sich bequemte, die zweifelhafte Gesellschaft zu verlassen. Hedwig ärgerte sich, die Einladung angenommen zu haben. In diesem Moment schwor sich Hedwig, niemals auch nur einen Tropfen Alkohol zu trinken, um niemals in eine ähnliche Situation zu geraten. Das Angebot der Gräfin von Duwensee würde sie gleich morgen mittels eines Briefes freundlich, aber bestimmt ablehnen. Auch wenn Marianne von Kosin sehr freundlich zu ihr gewesen war – mit diesen Menschen wollte Hedwig nie wieder etwas zu tun haben.
Trotz der unbequemen Haltung nickte Hedwig ein, und erwachte, als die Tür der Fahrerseite heftig zugeschlagen wurde.
»Du hast dich unmöglich benommen!« Albert verbarg seinen Ärger über ihr Verhalten nicht. »Einfach wegzulaufen und dich hier verkriechen.«
»Ich denke nicht, dass mich jemand vermisst hat«, antwortete Hedwig und zog die Decke enger um sich. Sie fror schrecklich, ihre Füße schienen Eisklumpen zu sein. »Besonders du nicht«, fügte sie leise hinzu.
»Verdammt, Hedi, dieser Abend war wichtig für mich.« Mit der Faust schlug Albert auf das Lenkrad ein. »Alexander hat mich mit Leuten bekanntgemacht, die Musiker für eine Kapelle für das Ostseebad Cranz suchen. Neben Kost und Logis wird das Engagement gut bezahlt, denn die Kapelle spielt in den ersten Häusern am Platz. Eine solche Chance kann ich mir nicht entgehen lassen, denn ewig will ich nicht als Klimperer in den Lichtspielhäusern versauern.«
»Dann hast du die Anstellung?«, krächzte Hedwig, denn ihr Hals fühlte sich an, als stecke ein Stück Stacheldraht darin.
Er nickte stolz. »Ja, ich glaube ja, auf jeden Fall stehen meine Chancen gut.«
»Es freut mich für dich.« Hedwig meinte es ehrlich. »Würdest du mich jetzt bitte nach Hause fahren?«
Albert startete den Motor. Während der Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander. Albert fuhr viel langsamer als bei der Herfahrt, der Alkohol beeinträchtigte seine Fahrtüchtigkeit. Immer wieder geriet er auf die falsche Fahrbahn oder gefährlich nahe an den rechten Straßengraben. Glücklicherweise waren mitten in der Nacht keine anderen Fahrzeuge oder Fuhrwerke unterwegs. Hedwig klammerte sich am Sitz fest und betete stumm. Nie zuvor hatte sie den Anblick der ersten Häuser Sensburgs so sehr begrüßt. Die Kirchturmuhr schlug die vierte Stunde, als sie Hedwigs Zuhause erreichen. Albert starrte durch die Windschutzscheibe und machte keine Anstalten, ihr aus dem Wagen zu helfen. Ob und wann sie sich wiedersehen würden, erwähnte er mit keinem Wort.
»Dann gute Nacht, Albert«, sagte Hedwig leise, hob die Hand, als wolle sie ihn am Ärmel berühren, ließ den Arm aber wieder sinken und öffnete die Tür.
»Gute Nacht.« Immer noch sah er sie nicht an.
Hedwig war noch nicht an der Haustür, als der Motor aufheulte und Albert davonbrauste. Müde und erschöpft trat sie in die Diele, da tauchte ihr Vater wie aus dem Nichts vor ihr auf. Seine Ohrfeige kam so schnell, dass Hedwig keine Gelegenheit hatte, dem Schlag auszuweichen.
»Geh mir aus den Augen«, zischte Mahnstein. »Geh in dein Zimmer und bleib dort, bis ich entschieden habe, was mit dir geschehen soll.«
Blind vor Tränen des Schmerzes und der Wut stolperte Hedwig die Stiege hinauf, warf sich auf den Bauch und weinte in die Kissen.
Die Stunden in dem kalten Automobil hatten ihre Spuren hinterlassen. Am nächsten Morgen schleppte sich Hedwig fiebernd und mit laufender Nase durch das Haus, fütterte die Hühner und bereitete das Frühstück zu. Von des Vaters Ohrfeige war ihre linke Gesichtshälfte geschwollen. Als Hermann Mahnstein die Küche betrat, hatte er keinen Blick für Hedwigs Erkältung, sondern herrschte sie an:
»Habe ich dir nicht gesagt, du sollst auf deinem Zimmer bleiben? Dein Anblick widert mich an.«
»Mutter kann heute nicht aufstehen«, krächzte Hedwig heiser. »Irgendwer muss wohl das Frühstück machen.«
»Du wagst immer noch, mir zu widersprechen, Tochter?« Drohend baute er sich vor Hedwig auf. »Treibst dich wie eine Prostituierte die ganze Nacht mit Männern herum und schämst dich nicht, mir in die Augen zu sehen und auch noch frech zu werden?«
»Es ist nichts geschehen«, murmelte Hedwig im Versuch, sich zu verteidigen. »Albert und ich sind nur Freunde ...«, wiederholte sie, las aber in der Mimik ihres Vaters, dass er ihr kein Wort glaubte.
»Eine anständige Frau kommt nicht erst gegen Morgen nach Hause, wenn sie nicht die Nacht in den Armen ihres Liebhabers verbracht hat.«
»Du scheinst aus Erfahrung zu sprechen.« Bevor Hedwig nachgedacht hatte, waren ihr diese Worte entschlüpft. Die weitere Ohrfeige Mahnsteins nahm sie stoisch entgegen, kein Schmerzenslaut kam über ihre Lippen, obwohl sie meinte, ihr Schädel müsse jeden Moment in zwei Teile zerbrechen.
»Du durch und durch verdorbenes Stück!«, keuchte Mahnstein mit hochrotem Kopf. Erneut hob er die Hand und wurde nur durch das Eintreten von Karl an einem zweiten Schlag gehindert.
»Was ist hier los?« Verständnislos sah Karl von Hedwig zu seinem Vater.
»Das musst du deine verderbte Schwester fragen.«
Mit zwei Fingern hob Karl Hedwigs Kinn, betrachtete ihre geschwollene Wange und flüsterte: »Was ist gestern Abend bei dem Ball geschehen?«
»Nichts, für das ich mich schämen muss, im Gegenteil«, antwortete Hedwig fest. »Die Gräfin von Duwensee hat mir angeboten, eine komplette Garderobe für sie zu schneidern.«
»Du sollst für die Gräfin nähen?« Sofort änderte sich Mahnsteins Gesichtsausdruck. »Ist das wahr? Die feinen Herrschaften bezahlen bestimmt sehr gut.«
Er denkt sofort an den schnöden Mammon, den ein solcher Auftrag mir einbringen kann, dachte Hedwig bitter.
»Dazu muss ich aber auf Duwensee wohnen«, sagte sie und wollte gerade hinzufügen, dass sie entschlossen war, den Auftrag abzulehnen.
»Das käme mir sehr gelegen«, sagte Mahnstein. »Es wäre gut, wenn du das Haus hier verlässt, bevor dein schändliches Verhalten in der Stadt die Runde macht.«
»Wer kümmert sich dann