Schlafzimmer trug. Ihr Vater hatte es ihr vorgeworfen und sogar geschlagen, weil er meinte, sie habe sich mit Albert eingelassen, ohne ihr die Chance einer Verteidigung zu geben, und hatte sie als Hure beschimpft. Nun gut, dann sollte Hermann Mahnstein seine Meinung bestätigt haben!
Teils aus Leidenschaft, teils aus Trotz gegenüber ihrem Vater wurde Hedwig an diesem Vormittag die Geliebte von Albert von Dombrowski.
Das Frühjahr war immer Hedwigs liebste Jahreszeit gewesen. Wenn die Tage länger wurden, wenn die Starre des harten Winters langsam wich, das Eis auf den Seen und Flüssen taute, wenn sich Scharen von Krähen auf den Feldern sammelten, deren schwarze Erde unter dem schmutzig-grauen Schnee hervorschimmerte, und wenn die ersten Störche am Himmelszelt auf der Suche nach geeigneten Nistplätzen ihre Kreise zogen – dann war es Hedwig, als würde auch sie zu neuem Leben erwachen. Sie benötigte keinen Wecker. Bei Morgengrauen sprang sie ausgeruht aus den Federn, die Arbeit ging ihr leicht von der Hand, und mit jedem Atemzug sog sie die liebliche, reine Frühlingsluft ein.
An diesem Morgen stützte Hedwig sich mit den Händen auf den Schüttstein und starrte ihr Spiegelbild an. Die Frau, die sie darin erblickte, schien ihr fremd zu sein. Stumpfes Haar umrahmte ein fahles Gesicht mit einem spitzen Kinn, die Augen gräulich umschattet. Sie zitterte, dann würgte sie und der Mageninhalt stieg in ihre Kehle, dabei hatte sie heute Morgen außer einem Glas Wasser nichts zu sich genommen. Sie spuckte bittere Galle in das Abflussbecken, die Übelkeit wollte aber nicht weichen. Ihre Beine zitterten, sie fröstelte und fühlte sich, als hätte sie ganze Nacht über in einem Steinbruch gearbeitet.
Langsam löste sie ihre Hände von dem Schüttstein und legte sie auf ihre Brüste. Diese leichte Berührung verursachte ihr Schmerzen. Dann wanderten ihre Hände weiter nach unten und Hedwig war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Bisher hatte sie ihre Beschwerden vor der Familie verbergen können, denn im Laufe des Tages verging die Übelkeit und in ihre Wangen kehrte die Farbe zurück. Die Eltern und Geschwister waren ohnehin viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, was mit Hedwig los war. Der lange Winter hatte Auguste Mahnsteins Zustand verschlechtert, ihr Bruder Siggi hatte wochenlang gehustet und Anna angesteckt, und Karl und Fritz gingen ohnehin ihre eigenen Wege. Wieder war es Luise gewesen, die bei ihren gelegentlichen Besuchen bemerkt hatte, dass Hedwig sich verändert hatte. Den Fragen der Schwester war Hedwig aber ausgewichen. Sie fühlte sich nicht in der Lage, sich jemandem anzuvertrauen.
»Keine Angst, Hedi, ich passe auf«, hatte Albert im Rausch der Leidenschaft geflüstert, und sie hatte ihm vertraut. Hatte gedacht, dass es nicht gleich beim ersten Mal geschehen würde.
Zu Weihnachten hatte Albert eine Ansichtskarte geschrieben: Eine lange Strandpromenade, elegant gekleidete Herrschaften, die Damen zierliche, helle Sonnenschirme tragend, ein strahlend blauer Himmel und ein ebensolches Meer. Er hatte ihr ein frohes Fest und einen gesunden Jahreswechsel gewünscht, geschrieben, dass es ihm gut gehe und ihm die Arbeit viel Freude bereite, aber keine Adresse angegeben. Hedwig hatte die Karte nicht schnell genug verstecken können, so fiel sie ihrem Vater in die Hände, der sie in vier Teile zerriss und ins Herdfeuer warf. Seitdem hatte Hedwig keine weitere Nachricht von Albert erhalten. Vielleicht hatte er tatsächlich geschrieben, vielleicht ihr sogar seine Adresse mitgeteilt, und die Post hatte ihr Vater abgefangen.
Hedwig schreckte auf, als die Tür aufgerissen wurde. Strümpfig stolperte Siggi in die Küche, in den Händen zwei schlammverkrustete, knöchelhohe Stiefel.
»Meine Schuhe sind dreckig«, rief der Junge. »Mit denen kann ich nicht zur Schule. Warum hast du sie gestern nicht geputzt?«
Weil ich nicht eure Putzfrau bin, lag es Hedwig auf der Zunge, laut sagte sie aber nur: »Nach ein paar Schritten sind die Stiefel ohnehin wieder schmutzig.«
Durch das Tauwetter verwandelten sich die ungepflasterten Straßen in Schlammwege, und die Kinder brauchten fast doppelt so lange für ihre Schulwege, auch weil sie sich einen Spaß daraus machten, absichtlich in dem Schlamm zu springen und darin herumzurutschen. Dementsprechend schmutzig kam auch Siegfried jeden Tag von der Schule nach Hause.
»Du ziehst die Stiefel doch eh vor dem Klassenzimmer aus«, sprach Hedwig weiter.
»Der Lehrer schimpft aber, wenn die Schuhe dreckig sind.« Siggis Mundwinkel zuckten, Hedwig befürchtete, er würde jeden Moment zu weinen beginnen. Sie nahm einen gebrauchten Lappen, machte ihn nass und säuberte die Stiefel notdürftig. Dann forderte sie ihren Bruder auf, sich zu setzen, streifte ihm die Schuhe über und zog die Schnürsenkel fest.
»Jetzt ab mit dir, du bist spät dran, und wenn der Lehrer dich ausschimpft, dann sagst du ihm, dass er sich an mich wenden soll.«
Der Junge schulterte seinen Ranzen und verließ einigermaßen beruhigt das Haus. Hedwig war jedoch kein Moment der Ruhe vergönnt. Jetzt kam Anna die Treppe heruntergerannt, für die Schule fertig angekleidet, und rief: »Du musst zu Mutti, Hedi. Ihr ist heute Nacht ein kleines Malheur passiert ...«, Anna grinste wissend, »ich fürchte, du musst das Laken wechseln.«
Hinter dem Rücken verborgen ballte Hedwig die Hände zu Fäusten. Sie hatte das alles hier so satt, würde am liebsten weit fortlaufen und niemals wieder zurückkommen. Marianne von Kosin, die Gräfin von Duwensee, hatte ihre Arbeit zwar gelobt und stolz ihre neuen Kleider, Röcke und Blusen in ihrem Bekanntenkreis herumgezeigt, und Hedwig hatte auch einige Anfragen erhalten, die meisten hatte sie aber nicht annehmen können. Der Lohn der Gräfin war zwar angemessen gewesen, und Hedwig hatte in den vier Wochen kein Geld für Nahrung benötigt, ihr Vater aber hatte verlangt, die gesamte Summe ausgehändigt zu bekommen. Den Großteil hatte er ins Wirtshaus getragen, hatte großspurig Freunde eingeladen und beim Kartenspiel verloren. So war Hedwig nichts geblieben, von dem sie sich eine eigene Nähmaschine und sonstiges Zubehör hätte kaufen können. Eine Einladung in ein herrschaftliches Haus, wo sie hätte vor Ort nähen können, erfolgte leider kein zweites Mal. So blieben Hedwig wieder nur kleine Änderungen und der Traum einer eigenen Schneiderwerkstatt.
Nachdem Hedwig das Bett ihrer Mutter frisch bezogen und die beschmutzte Wäsche in Seifenlauge eingeweicht hatte, zog sie sich ihre festen Stiefel und den warmen Mantel an, um ihren Kopf band sie ein graues Tuch. Auch wenn sich heute die Sonne am Himmel blicken ließ, war der Wind kalt, und sie wollte sich nicht zusätzlich auch noch eine Erkältung einfangen.
Während sie kräftig ausschritt, erinnerte sich Hedwig daran, wie sie vor acht Jahren schon einmal diesen Weg gegangen war. Hätte sie damals doch nur die Bitte von Erna Ballnus abgeschlagen, eine Lieferung nach Kahlenwald zu bringen. Der Ärger mit ihrer einstigen Lehrherrin wäre ein geringeres Übel gewesen als das, was durch die Begegnung mit Albert von Dombrowski gefolgt war. Sicher, mit Alberts Hilfe hatte sie die Meisterschule besuchen können, heute jedoch haderte Hedwig selbst damit. Was hatte sie denn von den zwei gerahmten Urkunden? Sie hingen an der Wand ihres Zimmers und staubten vor sich hin. Seit Tagen überlegte Hedwig, ob sie Alberts Eltern aufsuchen sollte, es blieb ihr wohl keine andere Wahl. Die würden den genauen Aufenthaltsort ihres Sohnes kennen, und – wie es Hedwig auch drehte und wendete – es blieb ihr nichts anderes übrig, als Albert zu schreiben und ihn um eine Aussprache zu bitten.
Der Wind pfiff durch die noch kahlen Zweige der Eichen, die die lange Allee zum Gut säumten. Als das Gebäude in Sicht kam, stellte Hedwig fest, dass die letzten Jahre an Gut Kahlenwald nicht spurlos vorübergegangen waren. Der Verputz des Hauses bröckelte an vielen Stellen, und die Fenster des Dachgeschosses waren mit Brettern vernagelt. Hedwig zog an dem Klingelzug, und die Tür wurde ihr gleich darauf geöffnet.
»Sie wünschen?«
In den dunkelblonden Haaren von Alberts Mutter zeigten sich die ersten grauen Strähnen, um die Augen und von der Nase bis zum Kinn zogen sich tiefe Falten. Über einem schlichten Kleid aus brauner Wolle trug sie eine fleckige Schürze.
»Guten Tag, gnädige Frau«, grüßte Hedwig freundlich. »Mein Name ist Hedwig Mahnstein, und ich bitte Sie um ein Gespräch.«
»Mahnstein?« Johanna von Dombrowski musterte sie nachdenklich. »Der Name sagt mir nichts, aber Sie kommen mir bekannt vor.«
»Ich habe früher bei Erna Ballnus gearbeitet«, bestätigte Hedwig.
»Ach