»Entzückend, ganz entzückend«, sagte er wohlwollend, drehte sich dann um und rief: »Mama, kommst du bitte? Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Er war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch die Gräfin war groß und schlank und hatte das gleiche weißblonde Haar und strahlend blaue Augen. Alexander stellte ihr zuerst Hedwig, dann Albert vor. Die Gräfin reichte Hedwig die Hand und sagte: »Bitte fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Fräulein Mahnstein, bei uns geht es recht zwanglos zu. Vielleicht können wir später über Ihre Arbeit sprechen. Gute Schneiderinnen sind rar, deswegen interessiert mich Ihre Tätigkeit. Im Moment muss ich aber noch die eintreffenden Gäste begrüßen.«
Hedwig vermutete, die Worte der Gräfin waren nur Floskeln, wie sie in diesen Kreisen üblich waren, und sie war dankbar, als sich ihre Aufmerksamkeit anderen Gästen zuwandte.
An Alberts Arm schritt Hedwig die Freitreppe hinauf. Der obere Korridor hatte stuckverzierte und mit Porträts geschmückte Wände, auf dem Boden weiche Teppiche und war hell erleuchtet. Eine zweiflügelige Tür führte in den Ballsaal, eine zweite Tür in einen etwas kleineren Raum, an dessen Längsseiten ein kalt-warmes Büffet aufgebaut war. Zielsicher ging Albert zu diesem, nahm zwei Teller vom Stapel und begann, sie zu füllen.
»Dürfen wir das denn?«, flüsterte Hedwig.
Albert lachte. »Du hast die Gräfin gehört: Wir sollen uns wie zu Hause fühlen. Sie ist doch sehr nett, Hedi, und wie findest du Alexander?«
»Etwas ... aufdringlich«, antwortete Hedwig ehrlich. »Verzeih, dass ich das über deinen Freund sage, mir gefällt er aber nicht.«
Albert steckte sich ein mit Fisch belegtes Kanapee in den Mund, kaute und zuckte nur mit den Schultern. Ein Diener mit einem Tablett trat zu ihnen und bot ihnen Wein und Sekt an. Ohne Hedwig zu fragen, nahm Albert zwei Gläser mit Weißwein entgegen und drückte ihr eines in die Hand.
»Ich möchte keinen Alkohol trinken«, sagte Hedwig.
»Nicht? Na gut, dann trinke ich eben beide.« Albert lachte und leerte erst das eine, dann das andere Glas jeweils bis zur Neige.
Der Wunsch, das Fest so schnell wie möglich wieder zu verlassen, wurde in Hedwig immer stärker. Es war ein Fehler gewesen, die Einladung anzunehmen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie einige Damen sie verstohlen musterten und schnell zur Seite schauten, wenn Hedwig deren Blicke auffing.
Im Ballsaal erklang nun eine beschwingte Walzermusik.
»Wir wollen tanzen!«
Albert packte ihren Arm und zog sie auf die Tanzfläche. Er war ein guter Tänzer, sicher führte er sie über das Parkett. Hedwig, die die Grundschritte des Walzers beherrschte, fühlte sich zum ersten Mal an diesem Abend etwas entspannter. Es machte Spaß, mit Albert zu tanzen.
Als Musiker hatte er ein perfektes Taktgefühl, und sie ließ sich gern führen. Nach dem Walzer folgte ein schneller Foxtrott. Hedwig rang nach Luft und war froh, als Albert vorschlug, eine Pause einzulegen. Sie hatte Durst, musste aber im Nebenraum erst suchen, bis sie eine Karaffe mit Wasser entdeckte. Albert hingegen trank schon wieder Wein, und sein Blick wurde bereits glasig.
»Du musst wieder nach Hause fahren«, mahnte Hedwig leise.
»Kein Problem. Hedi, ich vertrage schon was.«
Er lachte, begrüßte zwei Männer, die er von früher kannte, entfernte sich mit ihnen, und Hedi blieb verloren an der Seite stehen.
Da stand Alexander Kosin vor ihr und sagte: »Darf ich um den nächsten Tanz bitten, Hedwig?«
Es störte Hedwig, dass er sie einfach mit dem Vornamen ansprach, und tanzen wollte sie mit diesem Mann nicht. Da sie aber kein Aufsehen erregen wollte, bemühte sie sich um ein unverbindliches Lächeln und folgte Alexander auf die Fläche. Auch er tanzte und führte gut, allerdings lag seine rechte Hand nicht auf ihrem Schulterblatt, sondern umschlang ihre Taille, und er zog sie dichter an sich heran, als es schicklich war. Hedwig roch seinen alkoholgeschwängerten Atem. Als er sie nach drei Tänzen nicht gehen lassen wollte, sah sich Hedwig suchend nach Albert um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken.
»Ich brauche eine Pause«, sagte Hedwig und befreite sich aus Alexanders Armen. »Es ist sehr warm hier.«
»Wenn Sie möchten, gehen wir auf die Terrasse, um frische Luft zu schöpfen«, sagte Alexander prompt.
»Danke, nein«, antwortete Hedwig entschieden. Auf keinen Fall würde sie mit diesem Mann allein in die Nacht hinausgehen. »Ich muss nach Albert sehen, denn es wird Zeit, dass wir uns verabschieden.«
»Jetzt schon? Der Abend hat doch gerade erst begonnen.«
»Wir haben eine weite Fahrt bis nach Sensburg«, antwortete Hedwig.
»Einen letzten Tanz müssen Sie mir aber noch schenken!«
Erneut riss Alexander Hedwig in die Arme. Sie fühlte sich wie in Stahlklammern gefangen und bereute, jemals einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses gesetzt zu haben. Die Musik wurde nun langsamer, Alex beugte seinen Kopf und entsetzt spürte Hedwig, wie seine Lippen über ihren Hals strichen.
»Alex, ich glaube, das Fräulein möchte im Moment nicht länger tanzen.« Wie aus dem Nichts war die Gräfin von Duwensee aufgetaucht und wies ihren Sohn wie einen Schuljungen zurecht. »Ich bitte dich, Fräulein Mahnstein loszulassen und dich um die anderen Gäste zu kümmern. Ich möchte ohnehin mit Fräulein Mahnstein über Schnittmuster plaudern.«
Erleichtert atmete Hedwig auf, als Alexander sie endlich freigab. Die Frau Gräfin war nüchtern, und dankbar folgte Hedwig der eleganten Dame in einen kleinen Raum am Ende des Korridors, in dem sie miteinander allein waren. Die Gräfin schloss die Tür hinter sich und sagte:
»Ich muss mich für meinen Sohn entschuldigen, Fräulein Mahnstein. Alexander meint, keine Frau könne ihm widerstehen, es ist ihm bisher aber nicht gelungen, eine als neue Herrin auf Duwensee nach Hause zu führen. Seit sein Vater tot ist, entgleitet er immer mehr meinem Einfluss.«
Hedwig, der diese offenen Worte peinlich waren, nickte nur und fragte: »Möchten Sie wirklich mit mir über meine Arbeit sprechen, Frau Gräfin?«
»Sicherlich, Fräulein Mahnstein. Wie ich erwähnte, habe ich derzeit keine gute Schneiderin, benötige aber für das kommende Weihnachtsfest eine neue Garderobe. Meinen Sie, Sie können einen solchen Auftrag übernehmen?«
»Bis Weihnachten?«, wiederholte Hedwig erstaunt. »Das ist nicht mehr viel Zeit. Zwischen Sensburg und hier gibt es keine Zugverbindung, Sie müssten täglich mit dem Wagen in die Stadt kommen ...«
»Ich dachte daran, dass Sie hier im Haus arbeiten«, fiel die Gräfin Hedwig ins Wort. »Sie können in einem der Gästezimmer wohnen, Kost und Logis erhalten Sie zuzüglich zu Ihrem Lohn.«
Hedwig schnappte nach Luft und stieß hervor: »Sie wissen doch nicht, ob ich Ihren Ansprüchen gerecht werden kann!«
»Wir werden es ausprobieren«, antwortete die Gräfin und reichte Hedwig die Hand. »Es ist also abgemacht? Ein Wagen wird Sie am kommenden Montag abholen, dann werden wir gleich die notwendigen Stoffe und alles, was Sie benötigen, bestellen, damit Sie so schnell wie möglich mit der Arbeit beginnen können.« Da die Gräfin merkte, wie Hedwig zögerte, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu: »Mein Sohn wird in den nächsten Wochen nicht anwesend sein, falls Sie seinetwegen Bedenken haben. Seine Geschäfte führen ihn nach Berlin.«
In Hedwigs Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Konnte sie ein solch großzügiges Angebot ausschlagen? In erster Linie ging es weniger um den Lohn, den dieser Auftrag ihr einbringen würde. Wenn die Gräfin mit ihrer Arbeit zufrieden sein würde, dann könnte das ihr, Hedwig, weitere Aufträge einbringen. Was würden aber ihre Eltern dazu meinen, wenn sie weitere drei Wochen von zu Hause fort sein würde?
»Ich muss darüber nachdenken«, antwortete Hedwig daher vage. »Ich gebe Ihnen am Montag telefonisch Bescheid.«
»Machen Sie das, Fräulein Mahnstein, aber bitte nicht später, denn wenn Sie