erblickten, und setzt wackelig einen Huf vor den anderen.
9.
Etwa 564 Kilometer nordwestlich von Randhausen in Lage verlässt Melinda Henske (53) die Praxis ihres Onkologen Dr. Jonas Fiedel.
MELINDA
Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet.
Denkt Melinda.
Und blinzelt in die Sonne.
MELINDA
Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet.
Sie denkt immer wieder diesen Satz. Eine Art Schutzmechanismus. Um keine anderen Gedanken zuzulassen. Dabei weiß Melinda:
MELINDA
Ich muss jetzt Dinge organisieren, bevor es zu spät ist. Ich muss mit allem reinen Tisch machen. Ich muss einen Plan machen, damit ich Punkt für Punkt alles klären kann. Ich muss jetzt einen Kaffee trinken und einen Plan machen. Eine Liste. Stichpunkte. Ich brauche Struktur und ich möchte Dinge erledigen und abkreuzen.
Sie meint abhaken, oder?
Aber sie denkt nur diesen einen Satz:
MELINDA
Ich hätte immer gedacht, dass es an so einem Tag regnet.
Aber es regnet nicht.
Nein.
MELINDA
Einen Kaffee bitte. Schwarz. Und haben Sie einen Stift für mich?1
1 Das ist für den weiteren Verlauf unerheblich (wie so manches, was hier berichtet wird), aber vor der Praxis des Onkologen Dr. Jonas Fiedel sitzt fast täglich ein älterer Herr, ein Witwer, kerngesund, aber so einsam, dass sein Gesicht etwas dunkel Melancholisches ausstrahlt. Und bei jedem, der die Praxis verlässt, meint der Herr (dessen Namen wir leider nicht kennen) im Ausdruck einen Schock über eine Diagnose zu erkennen. Wobei das ein Trugschluss ist, denn natürlich kommen nicht 100% aller Patienten mit einer negativen Diagnose vom Onkologen. Umgekehrt, aber das weiß der ältere Herr wiederum nicht, und wenn doch, würde er hier nicht mehr sitzen, hilft er mit seinem traurigen Gesicht gerade jenen, die die Praxis von Dr. Jonas Fiedel mit schlechten Neuigkeiten verlassen. Denn die, die ihn, den älteren Herrn, da sitzen sehen, werden durch seinen jämmerlichen Anblick von ihren eigenen Problemen abgelenkt. So weit so gut, nur: Melinda Henske hat ihn nicht gesehen.
10.
Der Kellner nickt. Da ist es kurz vor halb 12. Im äußersten Norden Grönlands, etwa 816 Kilometer vom geografischen Nordpol entfernt, bricht ein Brocken Eis in der Größe eines Mehrfamilienhauses in den salzigen Ozean. Das ist so laut, das macht sogar Lärm, obwohl es niemand hört.
(Bumm)
Interessant auch, dass Eis an den Abbruchstellen eher blau als weiß aussieht. Woran das liegt?
11.
Frederick Kaufmann findet die Ratsgasse sieben. Er stellt den Koffer ab. Streckt sich. Dann greift er in die Umhängetasche und sucht und findet darin einen klobigen Schlüsselbund.
FRED
Also ... das ist jetzt schon ein besonderer Moment. Der Beginn ... Der eigentliche Beginn/
Nein. Keinen Monolog jetzt.
Streichen wir.
Frederick Kaufmann schließt die Tür im Erdgeschoss Ratsgasse sieben auf
FRED
Tritt ein, bring Glück herein!
und betritt ein ehemaliges Ladenlokal. Staub, alter Müll.
Was ist schlimmer als Müll? Alter Müll!
Bierdosen. Ein wackliger Tisch. Eine schräg hängende Lamellenjalousie.
FRED
Nicht mal ein Stuhl. Ich dachte, ich komme hier rein und kann anfangen, aber das hier ist ja ... unter aller Kanone.1
1 Sub omni canone (zu betonen cánone, auch die pluralische Form sub omnibus canonibus ist gängig) ist eine Bewertungsstufe von Dissertationen, die eine ungenügende Leistung kennzeichnet. Aus der wohl scherzhaften schülersprachlichen Übersetzung dieses Prädikats entstand im Deutschen die Redewendung „unter aller Kanone“, womit umgangssprachlich generell eine sehr schlechte Qualität gemeint ist.
12.
2. Juli circa 14h. Inge Kohlstett kassiert Bibiana Franzen (72) ab.
INGE
260 Gramm Pilze.
Tippen, Rattern, Klingeln. (Der Kasse.)
INGE
Drei Äpfel.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Eine Zitrone
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Eine Stange Lauch.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Pastinaken ... 280 Gramm.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Mangold. 200, nee, 320 Gramm.
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Und ein Saft. Das ist der ... Apfelsaft. Warte mal ... hier ...
Tippen, Rattern, Klingeln.
INGE
Willst du nicht noch Möhren? Habe ich frisch reinbekommen.
BIBIANA
Wer ist das?
Die beiden Damen folgen Frederick Kaufmann mit den Augen. Dieser überquert mit weit ausladenden Schritten den Marktplatz. Inge Kohlstett nennt einen Preis.
INGE
Vierund/
Während Frederick Kaufmanns Blick die Schelmengasse hoch fällt, wo er/
Kann man das so sagen?
Bitte?
Dass sein Blick die Gasse hoch fällt. Das klingt komisch.
Wieso? Das ist die Schelmengasse, die ist links neben dem Rathaus. Da kommt er vorbei/
Ja, aber ein Blick fällt doch nicht eine Gasse hoch.
Na, der guckt halt in die Gasse.
Ja, der guckt in die Gasse, aber du hast gesagt: sein Blick fällt die Gasse hoch.
Und du hast gesagt: Die beiden Damen folgen ihm mit den Augen ...
Das kann man sagen, aber ein Blick fällt die Gasse hoch?
Komm: Der ist auf dem Weg zum Rathaus. Er kommt an der Schelmengasse vorbei, er wendet im Gehen den Kopf zur Seite, schaut in diese Gasse und sieht: Ist das so okay für dich?
Sag ja nichts.
Und sieht: Eine Horde Kinder, acht, neun Stück1. Mit Tornister auf dem Rücken, lachend, krakeelend, sich neckend, eindeutig auf dem Weg nach Hause. Von der Schule. Und im Gehen trifft sein Blick, begegnet sein Blick dem Blick von Luisa Schwerte, zehn Jahre alt, blond, Sommersprossen, Blumenkleidchen.
1 Es sind genau neun Stück: Jan Färber,