Georg Renöckl

Paris abseits der Pfade (Jumboband)


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zu führen. Eine kleine Runde unternehme ich zuvor schon auf eigene Faust: Schließlich habe ich selbst zwei Jahre in unmittelbarer Nähe gewohnt und möchte mein altes Viertel, in dem sich ständig Neues tut, zunächst noch für mich selbst wiederentdecken.

      Place Stalingrad also. Das runde Gebäude zwischen den Métro-Stationen Stalingrad und Jaurès, bei dem ich meine Tour beginne, diente früher als Zoll-Hauptquartier. Entlang der heutigen Métro-Linie verlief einmal eine der stets weiter hinausgeschobenen Pariser Stadtgrenzen. Kurz vor der französischen Revolution wurde sie durch eine Mauer geschützt, die nicht so sehr der Verteidigung diente, sondern vielmehr den grassierenden Schmuggel unterbinden sollte. Die Pariser hassten die Mauer, die nicht lange stehen blieb. Heute ist die einstige Zoll-Rotunde ein Restaurant mit schönem Innenhof und noch schönerer Terrasse, die sich zu einem großzügigen Platz öffnet, den die Verkehrsberuhigung des Viertels vor zwanzig Jahren dem Boulevard abgetrotzt hat. Ich gehe links am gegenüberliegenden Brunnen vorbei und spaziere vor dem Kino Quai de Seine am Wasser entlang. Wie ein Spiegelbild sieht das Kino Quai de Loiré auf der anderen Seite aus – beide waren früher einmal Speichergebäude, als das Bassin de la Villette noch ein wichtiger Handelshafen war, geplant wurden sie vom Architekturbüro Gustave Eiffels. Besonders nett finde ich die Idee, dass man mit einer gültigen Kinokarte ein kleines Fährboot benützen darf, das regelmäßig zwischen Quai de Seine und Quai de Loire hin- und herfährt – man könnte natürlich auch zu Fuß gehen, aber das macht nur halb so viel Vergnügen. Die Kinos zeigen nicht nur Filme, sondern beherbergen auch gute Buchhandlungen und Cafés unter ihrem Dach. Kaum zu glauben, dass sich hier vor wenigen Jahren noch einer der wichtigsten und gefährlichsten Crack- und Heroinumschlagplätze der Stadt befand, ein Ort, dem man besser großräumig auswich.

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       Kino Quai de Seine

      Statt Drogendealern und ihrer Kundschaft haben heute „ganz normale“ Pariser das Bassin de la Villette als Freizeitareal für sich erobert. Die Stimmung an beiden Ufern dieser größten künstlichen Wasserfläche der Stadt ist entspannt, man spielt Tischtennis und Boule, badet in einem der im Sommer 2017 eingeweihten Schwimmbäder ein paar Schritte Richtung stadtauswärts oder borgt sich ein Boot beim kleinen Bootsverleih Marin d’eau douce aus, an dem ich gerade vorbeigehe. Ein verlockender Gedanke, auch ohne entsprechenden Führerschein nach kurzer Einschulung für ein paar Stunden Kapitän zu spielen, auf dem Kanal aus der Stadt hinauszutuckern und irgendwo im Grünen zu picknicken …

      Bei der Brücke, die ich nach wenigen Minuten erreiche, biege ich nach links ab, überquere dann die Rue de Flandre und stehe wenig später in der Rue Curial vor meinem ersten Ziel für heute: dem „Centquatre“. 120 Jahre gehörten die beiden Hallen aus Ziegeln, Gusseisen und Glas, die ich nun betrete, der Pariser Bestattung. Stallungen für dreihundert Pferde befanden sich im Untergeschoß, Dutzende Trauerkarossen, später über zweihundert motorisierte Leichenwägen waren eine Etage höher geparkt. Trauerzüge wurden in den Hallen zusammengestellt, in zahlreichen Geschäften gab es alles zu kaufen, was man dafür an Zubehör brauchte. In den 1990er-Jahren endete mit dem städtischen Begräbnismonopol auch die Aktivität der Betriebe in der Halle, die 2008 nach jahrelangen Umbauten als Kulturzentrum wiedereröffnet wurde. Während ich den großzügigen Raum auf mich wirken lasse, laufen zwei junge Menschen aus zwei gegenüberliegenden Ecken aufeinander zu und beginnen einander heftig abzuküssen. Ich bin unsicher, ob ich das nun rührend oder doch etwas übertrieben finden soll, da lösen sie sich plötzlich aus der Umarmung, wechseln ein paar recht nüchtern klingende Worte, gehen wieder zu ihren Ausgangspunkten zurück und wiederholen das gleiche Ritual. Als ich ihnen nachschaue, springen zwei andere, die gerade noch auf Liegestühlen mitten in der Halle gesessen sind, plötzlich auf und beflegeln sich heftig. Wie die beiden anderen brechen sie nach wenigen Sekunden ab und fangen wieder von vorne an. Endlich begreife ich: Hier machen Schauspielschüler ihre Hausaufgaben. Weiter im Inneren üben Zirkusschüler, zwei jonglieren mit Keulen, eine studiert eine Akrobatiknummer mit Hula-Hoop-Reifen ein. Die kommen fast jeden Tag, erklärt mir die Buchhändlerin, in deren Laden ich zwischendurch ein wenig stöbere. Die Schule befindet sich zwar nicht im Centquatre, aber die Schüler haben die Hallen als Proberaum für sich entdeckt. Ich durchquere den Komplex und verlasse ihn in Richtung des Parks Jardins d’Éole, der entlang der Rue d’Aubervilliers angelegt und gleichzeitig mit dem Centquatre eröffnet wurde. Der einladend blühende Park ist behindertengerecht und als ökologisches Vorzeigeprojekt gestaltet: Rampen machen die verschiedenen Niveaus auch für Rollstuhlfahrer zugänglich, die Wiesen werden per Sense gemäht. Der einst tristen Ausfallsstraße entlang eines nicht mehr genützten Betriebsgeländes der Eisenbahn, als die ich die Rue d’Aubervilliers in Erinnerung habe, hat der schöne Park ein völlig neues Gesicht verliehen. Noch dazu tun sich ungewohnte Blicke in Richtung Sacré-Cœur auf, das sich direkt hinter den Gleisen der Nordbahn zu erheben scheint. Ich spaziere im Park einige Schritte Richtung stadteinwärts und sehe mir dann die Graffiti auf der Brücke an, die über die Gleise führt – ein ehemaliger Un-Ort ist in ein gelungenes Stück öffentlicher Raum verwandelt worden. Zurück im Centquatre bleibe ich im Café Caché hängen, einem tatsächlich etwas versteckten, hübschen, kleinen Lokal rechts nach dem Eingang. Wahrscheinlich ist die Kellnerin daran schuld: Ich habe noch nie zuvor eine unter sechzigjährige Frau in einer Kleiderschürze aus Omas Mottenkiste gesehen und schon gar keine unter dreißigjährige, aber sie steht ihr.

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       Speicher

      Vorbei an den Zirkus- und Schauspielschülern, die ungerührt von den Passanten vor sich hin proben, gehe ich über die Rue Riquet zurück zum Bassin de la Villette, das optisch von den symmetrischen Gebäuden der Magasins généraux, ehemaligen Mehl- und Getreidespeichern, abgeschlossen wird. Das Gebäude auf „meiner“ Seite hat zwar die gleiche Form wie sein Zwilling gegenüber, der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammt, ist aber ein moderner Bau: Ein Brand zerstörte das originale Gebäude in den 1980er-Jahren. Es war nicht nur eine materielle Katastrophe: Die Speicher waren in den Jahren zuvor von Künstlern genützt worden, die sich dort mit Einverständnis der Stadtverwaltung Ateliers eingerichtet hatten. Jahrelang hatten sie auf den schlechten Zustand der Gebäude aufmerksam gemacht, bis es eines Tages zu spät war. Das Feuer vernichtete die Ateliers und zahlreiche Kunstwerke. Die Künstler, von denen manche bei dem Brand ihr Lebenswerk verloren hatten, sind nicht wiedergekommen. Der moderne Bau am Quai de la Seine ist heute eine Jugendherberge, sein Zwilling gegenüber ein Studentenheim. Ein paar Schritte mache ich noch stadtauswärts am Wasser, das nun nicht mehr Bassin de la Villette heißt, sondern bereits Canal de l’Ourcq. Mir ist ein Lastkahn aufgefallen, der offenbar eine Buchhandlung ist, eine Kombination, die ich so noch nie gesehen habe. Was kein Wunder ist, wie mir ein paar Augenblicke später Didier Delamare erklärt, der hier seit zwei Jahren mit seinen Büchern vor Anker liegt. Außer in London gibt es so etwas nämlich nicht in Europa. L’eau et les rêves („Das Wasser und die Träume“) nennt er seinen alten Kahn, in dem vor allem die Reise- und die Krimiabteilung gut ausgestattet sind, mir fallen auch die schönen Kinderbücher auf.

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       Zugbrücke

      Es wird Zeit, das Ufer zu wechseln. Über die letzte Pariser Zugbrücke, ein längst denkmalgeschütztes Kleinod aus dem neunzehntes Jahrhundert, spaziere ich zum Quai de la Loire. Es lohnt sich, falls gerade ein Boot auf die Brücke zufährt, kurz zu warten und zuzusehen, wie das gut in Schuss gehaltene technische Denkmal nach wie vor seinen Dienst tut, doch ich will nicht zu spät zu meinem Rendezvous auf der Terrasse der Paname Brewing Company kommen, eines Bierlokals gleich beim Studentenheim: Dominique Manotti erwartet mich dort. Die beinahe zerbrechlich wirkende Autorin gewinnt mit ihren ungemein dichten, harten, in rasantem Tempo erzählten Büchern Preis um Preis. Sie führt ihre atemlosen Leser in ein dunkles, gewalttätiges Universum, in dem nur heftige Liebe und deftiges Essen für sinnliche Lichtblitze sorgen. Happy End geht sich meistens keines aus, da ihre Ermittler oft an gut vernetzte Großmeister des Verbrechens geraten und nicht selten unmittelbar vor der Enthüllung von ihren Fällen abgezogen werden. Manotti