mitunter auch kitschigen, aber eben sicher nicht alltäglichen Gegenständen ausleben und weitergeben. Ich denke an die Wohnungen meiner Pariser Freunde und Bekannten, und tatsächlich geben sich die wenigsten mit einer Einrichtung zufrieden, bei der alles von der Stange ist – ein paar alte oder ungewöhnliche Dinge gehören einfach dazu. Was logisch ist: Die Pariser kultivieren ihren Individualismus wie sonst kaum jemand, und in St. Ouen werden sie bei ihrer Suche nach Gegenständen, die eine Seele haben, fündig.
Ich stöbere noch länger auf dem Marché Paul Bert herum und nehme noch das eine oder andere Ding in die Hand, finde sogar einen zweiten Teller, der genau zum ersten passt – und nur die Hälfte kostet …
Durch den überdachten Markt Jules Vallès, in dem es elegante alte Gehröcke und Hüte gibt – womöglich werden die im September beim der Fête des Puces wieder getragen –, gelange ich zum Restaurant La Péricole, dem nettesten und ruhigsten der vielen Restaurants am Flohmarkt.
Links von dem Tisch, an den ich gewiesen werde, blättern zwei niederländische Touristen in soeben erstandenen Bildbänden, rechts von mir klagt ein Händlerpaar bei einer fantastisch aussehenden Choucroute de la mer über die schwierigen Zeiten. Das Thema kommt mir bekannt vor, interessanter finde ich das Gericht. Für mich allein tut es zwar auch eine Linsensuppe mit viel Brot und einem Glas Brouilly, beim Hinausgehen frage ich aber dennoch nach dem Rezept des „Meeres-Sauerkrauts“. Wie gut Kraut und Fisch harmonieren, weiß ich aus meiner Zeit im Elsass, wo man Flussfische auf die landläufigen Sauerkrautberge schlichtet, wenn man einmal keine Lust auf Bratwurst oder Kassler hat. Matrosen- statt Bauernschmaus sozusagen. Hier das Rezept des Péricole-Chefs Laurent Heunde – wie immer mit Mengenangaben, die der Fantasie keine zu straffen Zügel anlegen.
CHOUCROUTE DE LA MER
Für das Sauerkraut:
Zwiebeln nach Belieben
Schmalz
Rohes Sauerkraut nach Belieben
Bier
Thymian, Lorbeer, Knoblauch, Wacholder,
Herbes de Provence, Salz, Pfeffer
Speckwürfel
Für die Crème au vin blanc:
250 ml Weißwein
150 g fein gehackte Schalotten
250 g Butter
500 ml Obers
100 g Geflügelfond
Maizena
Salz, Pfeffer
Pro Person:
1 Stück Haddock
Fischfond zum Pochieren
1 Rotbarbe im Ganzen
1 Lachsfilet
3–4 Gambas
Öl zum Braten
1 Salzkartoffel
Für das Sauerkraut die Zwiebeln im Schmalz anrösten, das Kraut dazugeben, mit Bier aufgießen, würzen und köcheln lassen, nach Belieben geröstete Speckwürfel dazugeben.
Für die Weißweinsauce den Wein mit fein gehackten Schalotten stark reduzierend kochen, dann die Schalotten entfernen. Butter in kleinen Stücken mit dem Schneebesen einrühren, Obers und Geflügelfond dazugeben, mit Maizena binden und mit Salz und Pfeffer abschmecken.
Den Haddock (geräucherter Schellfisch – kann man auch durch einen anderen Räucherfisch ersetzen) in Fischfond kurz pochieren, die übrigen Fische und die Gambas in der Pfanne in Öl braten und in einer großen Schüssel oder einzeln auf weiten Suppentellern auf dem in der Mitte aufgehäuften Sauerkraut anrichten. Mit Weißweincreme begießen und mit der Salzkartoffel servieren, restliche Sauce extra auf den Tisch stellen.
Bei den Fischen kann man variieren, oft sieht man auch Miesmuscheln und Ähnliches auf der Choucroute – einfach ausprobieren!
Der Bildband meiner holländischen Tischnachbarn hat mich auf die Idee gebracht, einen Abstecher zur Libraire de l’avenue zu machen, einem riesigen Bücher-Antiquariat nur wenige Meter von hier entfernt. Auf dem Weg kann man bei einigen eher improvisierten Flohmarkt-Ständen den einen oder anderen wirklich günstigen Fund machen, doch ich steuere direkt in diesen Buchladen mit seinen 150 000 alten Bildbänden und den immer wieder sehenswerten Drucken und Lithografien, in denen man dort blättern kann. Er ist natürlich für Spezialisten auf der Suche nach vergriffenen, besonderen Exemplaren interessant, aber auch für Laien – die Preise sind schließlich deutlich niedriger als für neue Bücher, und so wahnsinnig viel hat sich seit den Achtzigerjahren etwa an der Romanik in Frankreich nicht geändert, dass man einen entsprechenden Bildband als veraltet bezeichnen müsste.
Durch die Rue Louis Dain gelange ich wieder zurück zur Rue des Rosiers. Ich komme an weiteren ungewöhnlichen Geschäften vorbei: Eines hat sich auf alte Marmorkaminfassungen spezialisiert, in einem weiteren bekommt man wahrscheinlich für jedes beliebige Material das genau passende Pflegeprodukt zu kaufen. L’entrepôt heißt ein kleiner Markt, der eine erstaunliche Auswahl der typischen eisernen Mini-Balkone für französische Fenster anbietet, aber auch sehenswerte Gusseisenlaternen und Wendeltreppen sowie zwei komplette, wunderschöne alte Bars mit Zinktresen stehen in der Halle.
Aus der Chope, an der ich nun aus der anderen Richtung kommend vorbeigehe, klingt laute Manouche-Musik, ich bleibe gleich beim Eingang in der Menge stecken. Die Leute lauschen begeistert, man drängt sich an den Tischen, die Musiker spielen mitreißend – auch Saint-Ouen ist ein Fest.
Durch den Marché Serpette spaziere ich eher schnell, auf mich wirkt der überdachte Markt etwas überrenoviert, die Atmosphäre zu klinisch. Es gibt aber viel Sixties-Design zu bewundern, manche Interieurs wirken wie aus einem Alain Delon-Film und ich stoße auf einige Mappen mit schönen Bildern und Grafiken, schon ein wenig schau- und kaufmüde und von den vielen Eindrücken übersättigt. Einmal versuche ich mein Glück noch im Marché Vernaison, doch Anne-France ist schon wieder nicht zu finden. Mich stört das nicht: Dafür hat im Geschäft daneben eine hübsche, noch dazu äußerst günstige Champagnerschale aus Kristall, die ich am Vormittag übersehen habe, auf mich gewartet. Ein Fall fürs Handgepäck.
Le Roi Boit
Zurück geht es durch die Zone unter der Périph-Brücke, wo ich feststelle, dass offenbar selbst die Handtaschen- und Gürtelfälscher ihre Stammkunden haben, jedenfalls steuert eine Gruppe hübscher junger Pariserinnen einen der Verkäufer direkt an, offenbar um eine Bestellung abzuholen. Während ich an der inzwischen gerammelt vollen Recyclerie vorbeispaziere, packen dort gerade ein paar Hütchenspieler in Sekundenbruchteilen ihre Sachen weg, weil zwei Polizisten in Richtung Périph vorbeigehen. Zum Abschluss spaziere ich den Boulevard Ornano hinunter, auf dem gerade die Stände für den morgigen Wochenmarkt aufgebaut werden. Auf Nummer 36 befindet sich ein sehr spezieller Ort für eine Kaffeepause: La petite Renaissance, eine winzige Bar, die mit einem aus bemalten Fliesen bestehenden Wandgemälde aus dem späten neunzehnten Jahrhundert dekoriert ist. Der Plafond und die originalen Türen wurden leider in den 1980er-Jahren in die USA verkauft – der Zoll kontrollierte das ungewöhnliche Gepäck zwar, die Ausfuhr des Kunstwerks war aber völlig legal. Erst danach wurden die Behörden auf das Lokal aufmerksam und stellten die Reste unter Denkmalschutz. Nicht nur die Geschichte der kleinen Bar ist kurios, auch der Aufenthalt dort: Sie wird ausschließlich von Männern afrikanischer Herkunft frequentiert. Der Kaffee ist gut und genau das, was ich jetzt brauche. Während ich ihn trinke und das Fliesen-Bild mit dem Titel „Le roi boit“ (Der König trinkt) betrachte, verwickelt mich ein offenbar royalistisch gesinnter, vielleicht nicht mehr ganz nüchterner Gast, der wohl auf einen bereitwilligen Zuhörer gewartet hat, tatsächlich in eine Diskussion über die Vor- und Nachteile, die die Einführung der Monarchie in Frankreich