dem Arabischen Frühling
Während es bis 2011 trotz großer Krisen und Meinungsverschiedenheiten die sechs Golfmonarchien immer schafften, sich auf einen, wenn auch schwachen gemeinsamen Nenner in Sicherheitsfragen zu einigen, so setzte der Arabische Frühling der Illusion ein Ende, dass der GCC außen- und sicherheitspolitisch konsensfähig wäre. Als in Tunesien Ende 2010 die ersten Massenproteste mehr politische Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit einforderten, wurde die Konfrontation zwischen Öffentlichkeit und autoritärem Machtapparat in den Golfstaaten komplett unterschiedlich bewertet. Die unterschiedlichen Positionen zweier Männer und zweier Staaten am Golf sollten sowohl den Golf als auch die gesamte Region spalten: Hamad bin Khalifa al Thani, mittlerweile Katars Emir, und Mohammad bin Zayed Al Nahyan, der Kronprinz von Abu Dhabi. Beide interpretierten den soziopolitischen Zeitenwandel, der über die Region hineinbrach, auf Basis von Narrativen, die nicht miteinander vereinbar waren.
Al Thani, der seit Anfang der 1990er Jahre die Regierungsgeschäfte seines Vaters aus dem Hintergrund leitete und dann seit 1995 selbst regierte, sah die Entwicklungen in der Region 2010 und 2011 aus dem Blickwinkel einer gewissen Gelassenheit und Souveränität. Für ein Land wie Katar, das seit 1995 sich sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich und politisch öffnete, war der Ruf nach mehr Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, der von der arabischen Straße hallte, keine Bedrohung. Die relativ kleine Bevölkerung von gerade einmal 300.000 Katarern ist äußerst homogen – sprachlich, religiös sowie sozioökonomisch – und erfreut sich an dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Für seine Bürger garantiert der katarische Rentierstaat hohe Renditen und relativ großzügige Freiheitsrechte. Folglich war Katar mehr oder weniger immun gegen die Narrative der Demonstranten des Arabischen Frühlings. Mehr noch, ohne eigenständige Oppositionsgruppen im Land und einer relativ apolitischen Bevölkerung hatte Katar die Möglichkeit, zu experimentieren.19
Selbst ein Revolutionär gegen Kolonialismus und Autoritarismus, sah Al Thani in dem Umbruch in Nordafrika und der Levante eine Chance, die Region von solchen autoritären Regimen zu befreien, die seiner Meinung nach durch Vetternwirtschaft und Repression ihren Ländern Fortschritt und Entwicklung verwehrten. Bereits 1996 hatte er mit der Gründung des Medienkonzerns Al Jazeera unter dem Motto »Stimme für die Stimmlosen« ein Zeichen in der Region gesetzt, das nicht nur die Medienlandschaft revolutionieren sollte, sondern Nährboden für die Entwicklung einer arabischen Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit bereitete – ein mächtiges Instrument, das Katar schon früh während des Arabischen Frühlings den Revolutionären zur Seite stellte.20 Zwar ist es übertrieben zu behaupten, dass der Arabische Frühling erst durch Al Jazeera möglich gemacht worden wäre, aber der Satellitenkanal hat dennoch geholfen, die Forderungen der Revolutionen regional zu bündeln. Oppositionelle und Revolutionäre aller Farben und Gesinnungen erschienen plötzlich auf dem Sender, um die bestehenden Missstände in ihren Ländern anzuprangern – all dies ohne lokale Regimezensur.
Aber al Thani ging noch weiter. Wie auch die anderen Nachbarstaaten beherbergte Katar eine Vielzahl von Oppositionellen und Dissidenten, die in Doha eine neue Heimat gefunden hatten und von denen viele aus dem islamistischen Spektrum kamen. Ganz besonders Anhänger der Muslimbrüderschaft, die im Rest der Region als Oppositionsgruppe geächtet war, hatten von Doha aus ihre Verbindungen nach Hause aufrechterhalten. Für den Emir bot die Muslimbruderschaft ein mächtiges Netzwerk, das als einzige Organisation über eine Infrastruktur im Untergrund in Tunesien, Ägypten oder Syrien verfügte, die man nun aktivieren konnte, sollten die Diktaturen fallen. Während Katar in Tunesien und Ägypten nach dem Fall der Regime sich für einen politischen Pluralismus stark machte, bekamen islamistische Parteien finanzielle Unterstützung. In Libyen und Syrien engagierte sich Katar militärisch – in Libyen im Rahmen der NATO-Operation und in Syrien in Absprache mit den USA.
Für al Thani waren die autoritären Systeme der Region zu einem Hindernis geworden, die Gesellschaften geschafft hatten, die von sozialer Ungerechtigkeit, wirtschaftlichen Missständen und Missmanagement, Repression und sozialer Ausgrenzung geprägt waren. Seine Strategie, sich dieser Systeme zu entledigen, basierte auf der naiven Idee, dass die islamischen Revolutionäre nach dem Fall der Regime pluralistische, soziopolitische Systeme aufbauen würden, die Arabisten, Islamisten und Liberale zusammenbringen könnten. Das Chaos, das seitdem die Region zeichnet, mag für Katar nur eine Phase der post-revolutionären Selbstfindung sein, hat aber in den Nachbarstaaten, allen voran den VAE, zu einer massiven Sicherheitsparanoia geführt.21
Anders als al Thani lässt sich bin Zayed in Abu Dhabi nicht als Revolutionär, sondern eher als Konterrevolutionär charakterisieren, dem mehr am Erhalt des regionalen Status quo liegt, als an einem geostrategischen Wandel. Als Mann des Militärs hat bin Zayed seit den 1990er Jahren die VAE zu einem »kleinen Sparta« umgebaut – einem Polizeistaat, in dem der Sicherheitssektor alle wichtigen Portfolios des Landes dominiert.22 Absoluter Gehorsam und zentrale staatliche Kontrolle von allen Bereichen der Öffentlichkeit zeichnen die Emirate aus. Der Raum für Zivilgesellschaft und bürgerliche Initiative ist verschwindend gering. Gegenüber politischen Oppositionellen, Dissidenten und Aktivisten zeigt die Zentralregierung in Abu Dhabi null Toleranz.
Vor diesem Hintergrund erzeugten die Entwicklungen während des Arabischen Frühlings in Abu Dhabi Regimeparanoia. Der Gedanke, dass nichtstaatliche Akteure, vor allem unter dem Banner des politischen Islam, mit rein zivilgesellschaftlichem Aktivismus Regime stürzen könnten, übertraf bin Zayeds kühnste Albträume. Für ihn war der Arabische Frühling keine Chance für Fortschritt, sondern vielmehr eine Bedrohung für die Stabilität in der Region, auf die nach der Revolution nur Chaos und Anarchie folgen konnten. Dem anti-autoritären Narrativ von soziopolitischem Pluralismus der Katarer setzten die Emiratis ein Narrativ der autoritären Stabilität entgegen.23 Auf Basis der Versicherheitlichung des politischen Islam und liberaler Zivilgesellschaft im weiteren Sinne konstruierte bin Zayed die Angst vor dem »Terrorismus«, der nicht nur gewaltbereite, dschihadistische Organisationen umfasste, sondern jegliche Form des politischen Islam. Da Zivilgesellschaft in der arabischen Welt traditionell islamistisch geprägt war, umfasste der emiratische Katalog von »Terrororganisationen« eine Vielzahl von Organisationen, die im Westen und dem Rest der Welt zivilgesellschaftlich geschützt sind. Gemäß diesem Narrativ beginnt der »Terrorismus« bereits mit unkontrollierter Dissidenz, die ideologisch untermauert zu gewaltbereiter Opposition führt und die sich gegen die Staatsgewalt stellen könnte. Vor allem die Muslimbruderschaft wurde von den VAE hier oft als »Einstiegsdroge« für den gewaltbereiten, dschihadistischen Terrorismus dargestellt.24
Die Angst des Regimes in Abu Dhabi vor jeglicher Form von Dissidenz lässt sich sowohl ideologisch als auch faktisch erklären. Als ein föderaler Staat von sieben unterschiedlichen Emiraten weisen die VAE nicht die gleiche Homogenität auf wie der Nachbar in Katar. Neben ideologischen Gefällen zwischen dem politisch dominanten Abu Dhabi und der globalen Drehscheibe Dubai gibt es zwischen den beiden großen Emiraten im Süden und den kleineren Emiraten im Norden auch starke wirtschaftliche Gefälle. Das Einkommen des Landes, das mittlerweile zum größten Teil von Abu Dhabi erwirtschaftet wird, ist ungleich verteilt, wobei Abu Dhabi und Dubai die kleineren Emirate im Pro-Kopf Einkommen deutlich abhängen. Daher gab es besonders in den kleineren Emiraten des Nordens öfters potenzielle Angriffsflächen für zivilgesellschaftlichen Aktivismus und politischen Islam. Die größte islamistische Oppositionsbewegung in den VAE war Al Islah, ein lokaler Ableger der Muslimbruderschaft, die nicht nur seit den 1970er Jahren in den Emiraten geduldet war, sondern sogar aktiv sowohl von Dubais Herrscherfamilie Al Maktoum und Ras Al Khaimas und Sharjahs Herrscherfamilie Al Qassimi unterstützt wurde.25 Bis in die späten 2000er Jahre hinein hatten Anhänger von Al Islah Schlüsselpositionen im Bildungs- und Justizministerium wie auch in anderen Verwaltungsbehörden inne.
Demzufolge war die Angst vor der Unterwanderung des Staates durch politischen Islam, der in Abu Dhabi als eine externe, nicht zu kontrollierende Macht angesehen wird, nicht ganz unbegründet. Die obsessive Versicherheitlichung führte erst 2007 und dann 2011 und 2013 zu einer breit angelegten Säuberungsaktion, wobei Anhänger von Al Islah erst ihres Amtes enthoben und später vor Gericht gestellt wurden. In einem der letzten großen Verfahren 2013 wurden 94 politische Aktivisten verurteilt, die das Regime in den