Jünger miteinander in Gesprächen vertieft sind, ist nur Judas Iskariot isoliert, dessen „Nichtzugehörigkeit“ noch dadurch unterstrichen wird, dass die Sicht des Betrachters auf seinen linken nach außen gewendeten Fuß fällt. Judas Iskariot ist zum Sprung bereit, um der „christlichen Gemeinschaft“ den Rücken zu kehren, um zum Christusverräter wie „Christenfeind“ zu werden. Die Isoliertheit von Judas wird nur scheinbar durch den Sachverhalt gebrochen, dass Jesus ihm Brot reicht. Cranachs Szenerie stützt sich dabei auf Johannes:
»Nach diesen Worten wurde Jesus im Geiste erschüttert und bezeugte: Amen, amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern. Die Jünger blickten sich ratlos an, weil sie nicht wussten, wen er meinte. Einer von den Jüngern lag an der Seite Jesu; es war der, den Jesus liebte. Simon Petrus nickte ihm zu, er solle fragen, von wem Jesus spreche. Da lehnte sich dieser zurück an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist es? Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Bissen Brot, den ich eintauche, geben werde. Dann tauchte er das Brot ein, nahm es und gab es Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn. Jesus sagte zu ihm: Was du tun willst, das tue bald! Aber keiner der Anwesenden verstand, warum er ihm das sagte. Weil Judas die Kasse hatte, meinten einige, Jesus wolle ihm sagen: Kaufe, was wir zum Fest brauchen! oder Jesus trage ihm auf, den Armen etwas zu geben. Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht.« (Johannes 13, 21–30)
Die im Johannes-Evangelium angesprochene Funktion des Judas als Kassenwart ist auch insofern interessant als dieser zugleich als Dieb, als ein von Habgier getriebener Betrüger konstruiert wird, der die Einkünfte der Jünger veruntreut. Im Kontext der christlichen Deutungsgeschichte setzte sich dieses von Cranach vergegenständlichte negative Judasbild durch, das Judas als, wie Oz sagt, „Archetypen des Juden“ konstruierte. Bereits bei Johannes Chrysostomos zeigt sich die Gleichsetzung der Figur des Judas mit „den Juden“. In seinen Predigten benutzte der Kirchenvater Judas als „jüdischen Prototyp“, um die soziale Trennung zwischen Christen und Juden zu forcieren, wenn es bspw. heißt: »Siehst du nun, wie unrein die ungesäuerten Brodte der Juden sind, wie unheilig ihr Fest ist? Es war einmal ein Passah der Juden, aber nunmehr ist es aufgehoben.« Der im Kontext des Judasbildes produzierte Antisemitismus diente bei Chrysostomos wie bei Luther der Aufgabe, die identitäre Geschlossenheit des eigenen religiösen Kollektivs mittels sozialer Abgrenzung zu festigen. Eine Vielzahl mittelalterlicher wie frühneuzeitlicher Judaslegenden perpetuierten das Judas-Klischee und verfestigten es so. Verrat wie „negative Charaktereigenschaften des Judas“ werden sukzessive in generalisierender Weise auf „die Juden“ als Kollektiv übertragen. Habgier, Geldsucht, Untreue, Bosheit, Denunziation, Heuchelei und Verrat werden so zu essentialisierten Eigenschaften des Judentums, deren rassifizierende Adjektivierung („falsch“, „heimtückisch“, „verschworen“, „böse“, „geldgierig“) bis auf die heutigen Tage fortwirkt. Die Gestalt des Judas ist so untrennbar verbunden mit dem „Judaskuss“, was seine untrügliche Verbindung mit dem Negativen anzeigt. Insofern es bereits im Johannes-Evangelium heißt: »Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, fuhr der Satan in ihn«, zeichnet sich hier bereits eine Diabolisierung der Juden ab bzw. ihre dehumanisierende Dämonisierung. Bei Hilarius von Poitiers ist die Figur des Teufels bereits weitgehend identisch mit dem als Synonym für die Judenheit verstandenen Judas.
In den Passionsspielen des Mittelalters ist der Jude in Gestalt von Judas der Verfluchte, der Verworfene, der mit bösen Taten in Verbindung gebracht wird. Insofern er das von Satan beeinflusste Böse verkörpert, der christliche Zuschauer hingegen das Gute, wird zugleich eine Konstellation des Kampfes generiert, in der sich das Judentum und Christentum feindlich wie unversöhnlich gegenüberstehen. Der Geldbeutel im Gemälde von Lukas Cranach illustriert dabei ein Stereotyp, welches sich mühelos in Zeiten des aufkommenden Frühkapitalismus in säkularisierter Variante wie bei Shakespeares Shylock oder bei Dickens in Gestalt des jüdischen Hehlers Fagin in Oliver Twist verwenden ließ. Vom Judas-Klischee zieht sich ein roter Faden zum Stereotyp des „Wucherjuden“, das sich bei Martin Luther in ausgeprägter Form findet. Insofern die Gestalt des Judas nicht nur für den singulären Verräter steht, sondern zugleich für den mit den Pharisäern Verschworenen, stellt seine Figur zugleich die Ursprungsgestalt aller Verschwörungslegenden dar, welche die Juden als Kollektiv betrachten, das mit fremden Mächten verbunden ist, um sich zur Herrschaft über die Wir-Gruppe aufzuschwingen. Die Gleichsetzung von Judas mit „den Juden“ ab dem 4. Jh. in den judenfeindlichen Schriften der Kirchenväter verdeutlicht den Sachverhalt, dass die Juden als Antithese herhalten mussten, um den homogenisierenden Formierungsprozess des Christentums zu forcieren. Die Relevanz des abendländischen Judasbildes, welches sich im kollektiven Bewusstsein tief verankerte, erkannte auch der dt. Nationalsozialismus und instrumentalisierte es für seinen Antisemitismus. Im April 1933 erschien zu Ostern eine Ausgabe der Propagandazeitung Der Stürmer mit der Überschrift Judas Greueltaten. Auf der Titelzeichnung zu sehen ist ein SA-Mann in Uniform, der eine Frau in seinem Arm hält. Beide stehen vor einem übergroßen Christuskreuz, während im Hintergrund vor dörflicher Landschaft die Sonne aufgeht, die ein großes Hakenkreuz schmückt. Die Bildunterschrift lautet:
»Die Juden haben Christus ans Kreuz geschlagen und ihn tot geglaubt. Er ist auferstanden. Sie haben Deutschland ans Kreuz geschlagen und tot gesagt und es ist auferstanden herrlicher denn je zuvor.« (Der Stürmer Nr. 15, April 1933)
Die nationalsozialistische Propaganda nutzte dabei die phonetische Ähnlichkeit zwischen dem Namen des Jünger Jesu und der Bezeichnung „Jude“ und instrumentalisierte den Sachverhalt, dass der hebräische Name Jehuda in seiner gräzisierten Form Juda lautet, womit einer der zwölf Stämme Israels sowie das in den judäischen Bergen um Jerusalem gelegene historische Südreich bezeichnet wird. Im Dezember 1939 lautete die Überschrift des Stürmer: „Das Ende Judas“.
1.14Zusammenfassung
In historischen wie soziologischen Werken zur Judenfeindschaft wird die Bedeutung der Antike für die Entstehung und Genese des Antisemitismus weitgehend unterschätzt, was der Sachverhalt offenbart, dass diese zumeist gänzlich ausgeklammert bleibt oder ihr nur wenige Zeilen gewidmet werden. Deutlich wird dies am verfehlten dichotomen Konstrukt eines „Antijudaismus“ versus eines „Antisemitismus“, insofern diese Dualität verkennt, dass bereits in der Antike ein Ensemble an Wirkungsfaktoren höchst dynamisch ineinandergriff und die Beweggründe der Judenfeinde keineswegs stets religiöser Natur waren. Diesen Sachverhalt verdeutlicht der Pogrom von Alexandria, der bereits „moderne Züge“ vorwegnahm, insofern es primär darum ging, die soziale Gleichstellung der Juden als vollberechtigte alexandrinische Bürger zu verhindern. Die Promotoren des antijüdischen Pogroms von Alexandria erinnern bereits an den Kreis der Gegner der jüdischen Emanzipation in der „Franzosenzeit“, die sich zu Beginn des 19. Jh.s in Preußen in der Deutschen Tischgesellschaft zusammenfanden, insofern es in beiden Fällen darum ging, den Juden ihre staatsbürgerliche Gleichberechtigung streitig zu machen.
In der Antike spielten sowohl religiöse wie kulturelle, soziale und politische Faktoren eine relevante Rolle beim Zustandekommen der Judenfeindschaft. Zu unterscheiden ist zwischen dem vorchristlich-antiken sowie dem christlichen Antisemitismus. Die Relevanz des „heidnischen Antisemitismus“ für die Entstehung christlich-antijüdischer Stereotype wird häufig unterbewertet, zeigt sich indes bereits anhand des Judenexkurses des Historiographen Tacitus, dessen antijüdische Diffamierungen seitens der christlichen Kirchenväter weitgehend übernommen wurden. Der christliche Antisemitismus etablierte sich in dem Maße, wie sich das Christentum nicht mehr als Teil des Judentums verstand, sondern eine eigene sich abgrenzende Identität entwickelte. Dieser Prozess setzte mit Paulus von Tarsus ein, der sich als äußerst erfolgreicher Missionar auf die sog. „Heidenmission“ konzentrierte. Als einer der ersten christlichen Theologen forcierte er die Trennung des Christentums vom Judentum, indem er die jüdischen Speisegesetze sowie die Beschneidung für „Heidenchristen“ als obsolet betrachtete. Paulus von Tarsus verbreitete das kriminalisierende Pejorativum vom Gottesmord in der Variante einer Kollektivschuldaussage, welche „die Juden“ für die Kreuzigung Christi verantwortlich machte. Der Judenhass erhielt so sukzessiven Eingang u. a. in den noch jungen Gemeinden Kleinasiens. Der sich zwischen 70 und 100 n. Chr. verstetigende