Kaiser Caligula ein offenes Geheimnis war, der Stadt einen Besuch ab und wurde von den Juden Alexandrias, die sich in der Frage der Bürgerrechte seine Unterstützung erhofften, triumphal empfangen. Angeheizt durch intellektuelle Wortführer und gestützt durch den römischen Statthalter Aulus Avillius Flaccus, der seine eigene Position im innerrömischen Machtgerangel stärken wollte, verhöhnte der Pöbel daraufhin Agrippa, legte Brand in einigen Synagogen und entweihte andere durch die Aufstellung von Bildsäulen Caligulas. Da der Kaiser seine göttliche Verehrung von allen zum römischen Imperium gehörenden Völkern gefordert hatte, war es vermutlich Flaccus, der diese Aktion initiierte, um die Gunst des Kaisers zu gewinnen, und der unverzüglich anordnete, die Statuen Caligulas in den Synagogen zu belassen.
Die bürgerrechtliche Gleichstellung der Juden untersagte Flaccus, der im gewalttätig ausgebrochenen Konflikt eine „divide et impera-Strategie“ verfolgte, um sich der griechischen wie ägyptischen Teile der Bevölkerung zu versichern. Als der Statthalter Roms öffentlich verkündete, die Juden seien als „Fremde“ anzusehen, war der mörderische Pöbel nicht mehr zu halten, der alsbald diejenigen Juden, die in der Stadt verstreut wohnten, aus ihren Häusern in Richtung des jüdischen Stadtquartiers trieb. Wohnungen wie Läden der Juden wurden geplündert und in Brand gesetzt. Juden, die anschließend noch in den „nichtjüdischen Stadtvierteln“ angetroffen wurden, ermordete die Menge. Berichtet wird, dass der wütende Mob auch nichtjüdische Ägypter umbrachte, die ihren Nachbarn zu Hilfe geeilt waren und diese in ihren Wohnungen versteckt hielten.
Mittels des Vorwands, das jüdische Stadtviertel nach Waffen zu durchsuchen, gestattete Flaccus seinen Soldaten die Plünderung jüdischen Besitzes, sodass es angetrieben durch räuberische Gier und Hass zu weiteren tödlichen Ausschreitungen kam. Zwar wurde Flaccus bereits im Herbst des Jahres 38 n. Chr. nach Rom abberufen, verfiel wegen früherer Delikte in Ungnade und wurde im kaiserlichen Auftrag getötet, doch die aggressive Judenfeindschaft blieb in Alexandria bestehen. Die Lage für die Juden gestaltete sich weiter als kritisch, zumal der Kaiser darauf bestand, dass die Bildsäulen seiner Person aus den Synagogen nicht entfernt werden dürften. Die eskalierende Situation führte zur Entsendung zweier alexandrinischer Abordnungen nach Rom. Hier eingetroffen obsiegten den Historiographen Philo und Josephus zufolge die von Apion angeführten judenfeindlichen Kräfte. Ihren Sieg konnten diese indes nicht auskosten, da Caligula alsbald eines gewaltsamen Todes starb und Kaiser Claudius (10 v. Chr.–54 n. Chr.) als dessen Nachfolger Rechte wie Sonderprivilegien der alexandrinischen Juden erneuerte. In den folgenden Jahrzehnten kam es in Alexandria jedoch zu zahlreichen weiteren antijüdischen Ausschreitungen, vor allem unter der Herrschaft Neros und Trajans. Wie bereits die Vorgänge in Elephantine zeigten, lässt sich der hist. Ursprung des antiken Antisemitismus in Ägypten verorten, wo es zu pogromartigen Übergriffen kam, unzählige Juden in den Flammen den Tod fanden, Synagogen verbrannten und ebenso ein recht umfassendes wie systematisiertes Set narrativer Rassifizierungstechniken bereitgestellt wurde, welches sowohl in die antisemitischen Diskurse Roms wie die des frühen Christentums einging.
1.8Der judenfeindliche Diskurs des vorchristl. Roms
Im Kontext des Widerstands der Juden gegen die römische Besatzungsmacht entwickelte sich eine ausgeprägte Judenfeindschaft. Die feindliche Aversion gegen die Juden besaß im Kontext der Kriegssituation einen zielgerichteten Charakter und ging qualitativ deutlich über die übliche und weitverbreitete Verachtung Roms gegenüber den „Barbaren“ hinaus, was die Schriften des römischen Senators und Historikers Publius Cornelius Tacitus (55/58–120 n. Chr.) verdeutlichen. In seinem Geschichtswerk, den Historien, findet sich ein Kapitel zum jüdischen Krieg sowie eine Darstellung des antiken Judentums („Judenexkurs“) mit zahlreichen antijüdischen Stereotypen, die von nun an das Fremdbild prägten. Auf eklektische Weise bündelte Tacitus diverse Narrative, die bereits der judenfeindliche Diskurs des Hellenismus hervorgebracht hatte. Den Grund seiner antijüdischen Ausfälle offenbart Tacitus, wenn er von der römischen Verbitterung darüber spricht, »dass die Juden als einzige sich nicht gefügt« hätten. Der Hintergrund der judenfeindlichen Ausfälle wird im fünften Buch der Historien beschrieben. Tacitus schildert hier die militärischen Vorbereitungen der Römer zur Eroberung Jerusalems. Als Tacitus den „Judenexkurs“ verfasste, befand sich Jerusalem folglich noch nicht in der Hand der Römer, die Erstürmung durch den römischen Kaiser Titus (39–81 n. Chr.) im Jahr 70 n. Chr. stand noch bevor. Als Tacitus den Text schrieb, stellten die Juden noch einen ernstzunehmenden Gegner dar, zumal sich die Kämpfe bereits über einen längeren Zeitraum hinweg erstreckten. Der hist. Kontext offenbart die Funktion des römischen Antisemitismus in dieser Zeit, insofern Tacitus’ Judenfeindschaft der Tatsache geschuldet war, dass der „jüdische Krieg“ nennenswerte Kapazitäten Roms band, sich als äußerst kostenintensiv erwies und einen Prestigeverlust der Großmacht bewirkte, die befürchtete, die „Nichtfügung“ der Juden könne im Imperium Romanum Schule machen. Der Antisemitismus zielte auf die Diffamierung des militärischen Gegners, den es aufgrund seiner „Verschiedenartigkeit“ vor allen anderen Völkern der Lächerlichkeit preiszugeben galt, wodurch mögliche Solidaritätsbekundungen mit den Aufständischen in Palästina unterbunden werden sollten.
Vom Exodus der Juden weiß Tacitus in seinen Historien zu berichten, dass in Ägypten eine Seuche ausgebrochen sei und der ägyptische König die göttliche Anweisung erhalten habe, die Juden als Heilmittel in andere Länder abzuschieben, da sie den Göttern verhasst seien. Tacitus übernahm somit die hellenistische Variante des „Anti-Exodus“, die zu seiner Zeit in Rom kursierte. Bzgl. der jüdischen Riten verbreitete Tacitus die Ansicht, diese seien nicht nur den Römern, sondern allen Sterblichen entgegengesetzt.
»Moses aber führte neue Riten ein, die denen der übrigen Sterblichen entgegengesetzt sind, um auch in Zukunft das Volk fest im Griff zu haben. Dort ist alles unheilig, was bei uns heilig ist, andererseits ist bei ihnen erlaubt, was bei uns ein Frevel ist. Dem Bild des Tieres, das sie vor dem Verdursten bewahrt und ihnen geholfen hatte, den richtigen Weg zu finden, ließen sie im Innersten des Heiligtums göttliche Verehrung zukommen.« (Tacitus: Historien 5,4)
Der Jude wird auf diese Weise bei Tacitus nicht nur zu einem Antipoden des Römers, sondern gar zum Gegner der Menschheit konstruiert. Die Riten der Juden charakterisierte der römische Historiograph insgesamt als »unheilvoll«, »schrecklich« und »verderbt«. Am verwerflichsten wie abscheulichsten hielt Tacitus die Beschneidung, die er sowohl als Abgrenzungs- wie als Konversionsritus interpretierte. In der antiken Literatur erstreckte sich die Resonanz auf die Zirkumzision von Bespöttelung über Hohn bis hin zur offenen feindlichen Aversion. Die feindselige Haltung gegenüber der Beschneidung war mit der Sexualisierung des Juden verkoppelt, die von der Vorstellung, der Beschnittene könne es einer Frau „nicht richtig besorgen“ bis hin zum Bild des lüsternen, überpotenten, allseits bereiten Juden reichte. Die Konstruktion der sexuellen Potenz des Juden verfolgte den Zweck, ihn aus der zivilisierten Welt auszuschließen, ihn den „Barbaren“ zuzurechnen. Die Unterdrückung der Juden gibt Tacitus als eine gerechtfertigte, moralische Notwendigkeit aus, insofern die Hebräer aufgrund ihrer fehlenden Triebunterdrückung den Tieren vergleichbar seien. Die untrennbare Verbindung zwischen sexueller Impotenz bzw. Potenz und Beschneidung diente bereits in der Antike dem Schüren der Kastrations- wie der Konkurrenzangst.
In der spätrömischen Biografie-Sammlung Historia Augusta wird die Beschneidung im Kontext des Verbots durch den römischen Kaiser Hadrian als »mutilare genitalia« bezeichnet. Der Verfasser führte damit ein bis heute gängiges antisemitisches Stereotyp ein, die polemische Falschbezeichnung der Zirkumzision als »Verstümmelung«, als »Kastration«. Die Zirkumzisions-Aversion war nicht nur mit der Variante der Sexualisierung verbunden, sondern ebenso mit der Physiognomisierung bzw. Ästhetisierung, insofern der unbeschnittene Penis als Ideal des „römischen Körpers“ galt. Im Kontext der Beschneidung wurde dem Juden so ein „anderer, abweichender Körper“ bescheinigt, der nicht mit dem gängigen römischen Schönheitsideal kompatibel sei. Der beschnittene jüdische Mann mutierte auf diese Weise zur hässlichen Person. Die Hässlichkeit bezog sich dabei nicht nur auf den Penis, sondern auf den Körper in Gänze, dessen Gestalt bzw. Aussehen die Zirkumzision determiniert habe. Der beschnittene, unästhetische Penis zog gewissermaßen den „Judenbuckel“