Kathrin Hanke

Blutheide


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neuen seine Hände hin.

      (Rainer Maria Rilke)

      Kapitel 1: Sonntag, 01. Mai 2011

      17.43 Uhr

      Es war Sonntag, ein recht sonniger noch dazu, doch Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch, anstatt seinen freien Tag im Garten zu verbringen, wie vermutlich die meisten seiner Kollegen. Hier konnte er die Ruhe genießen. Zu Hause konnte er das nicht. Er hielt es einfach nie lang aus in seinem schmucken Einfamilienhaus am Stadtrand, und so sammelten sich langsam, aber sicher die Überstunden auf seinem Arbeitskonto an. Auch wenn es inzwischen fast zwei Jahre her war, dass seine Frau ihn verlassen hatte, und es ihm ansonsten endlich wieder einigermaßen gut ging – das Zuhause-Gefühl war gemeinsam mit Simone bei ihrem Auszug verschwunden und hatte sich nicht wieder eingestellt. Loslassen konnte er aber auch nicht. Seine Freunde hatten es inzwischen aufgegeben, ihn zu einem Umzug in eine neue Wohnung bewegen zu wollen, die frei von Erinnerungen war. Irgendwann waren es einfach auch die geduldigsten Seelen leid, ständig gegen eine Wand zu reden.

      Der Kriminalhauptkommissar hatte eine geöffnete Akte vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Die Personalakte seiner neuen Kollegin. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er das Foto der jungen Kommissarin. Eigentlich hatte er sich einen männlichen Kollegen als Verstärkung gewünscht. Obwohl er noch nie mit einer Frau im Team gearbeitet hatte – oder vielleicht gerade deshalb –, hatte er Bedenken. Genau benennen konnte er sie jedoch nicht und so hatte er auch keine Argumente vorbringen können, als sein Chef Stephan Mausner ihm mitgeteilt hatte, wen er für den offenen Posten ausgewählt hatte. Und gegen die Fakten in ihrem Lebenslauf gab es definitiv keine Argumente. Damit waren die wenigen Mitbewerber schnell aus dem Rennen, und Rehder hatte nun eine Frau in seinem Team.

      Er war kein Mensch, der sich gern auf etwas Neues einließ. Am liebsten war es ihm, wenn alles seinen eingefahrenen Weg lief. Der Job selbst brachte schon genug Überraschungen mit sich, fand er. Dass es dagegen auch im Privatleben nicht immer stur geradeaus oder – positiv ausgedrückt – nach vorn ging, hatte er allerdings spätestens bemerkt, als Simone sich Hals über Kopf aus dem Staub gemacht hatte. Er selbst hatte bis zu diesem Moment gedacht, mit seiner Ehe stünde alles zum Besten. Bis heute hatte er das Ganze nicht wirklich verstanden, doch inzwischen hatte er kapiert, dass es ihn nicht weiterbrachte, sich das Hirn deshalb zu zermartern.

      Wenn er es sich recht überlegte, gab es eigentlich noch einen Menschen, der seinem Wunsch nach einem normalen, durchgeplanten Leben immer wieder einen Strich durch die Rechnung machte. Bei diesem Gedanken griff er spontan zum Telefon und wählte die Handynummer seines Bruders. Sofort sprang am anderen Ende der Leitung die Mailbox an. Wahrscheinlich war es auch besser so, dachte Rehder und legte langsam den Hörer wieder auf die Gabel, ohne seinem Bruder eine Nachricht hinterlassen zu haben.

      18.23 Uhr

      Katharina von Hagemann stieß sich vom Fensterbrett ab und schaute sich in ihrem Wohnzimmer um. Oder zumindest in dem Raum, der ihr Wohnzimmer werden sollte. Momentan sah er eher aus wie das Aufbewahrungslager einer Sammelstelle für Hilfsmittel für die Dritte Welt: Überall stapelten sich Kartons, die darauf warteten, von ihr ausgepackt zu werden. Katharina beschloss, dass die Kartons sich noch weiter würden gedulden müssen, nahm die Zigarettenpackung sowie das kleine, schwarze Feuerzeug mit einem Werbeaufdruck der Löwenbrauerei vom Fensterbrett und steckte sich eine Zigarette an. Es war die letzte aus ihrem Stangenvorrat, den sie aus München mitgebracht hatte, und sie rauchte sie mit gemischten Gefühlen.

      Mit der München-Zigarette, wie sie sie in Gedanken nannte, ging sie in ihr neues Schlafzimmer. Auch hier standen ein paar geschlossene Kartons herum. Zudem lag ein zwei mal zwei Meter großer, neuer Futon auf dem Holzdielenboden. Nachdem die Möbelpacker sich vorhin verabschiedet hatten, hatte sie ihn ausgerollt und den Inhalt ihrer Sporttasche darauf ausgeschüttet. Sie drückte die Zigarette in einer Aluminiumschale aus, die vorhin noch Sushi enthalten hatte. Dann ließ sie sich auf ihrem Futon nieder und wühlte in dem Berg Zeugs herum, bis sie ihren Kulturbeutel gefunden hatte. Sie ging ins Bad, holte Zahnbürste und Zahnpasta heraus und putzte sich die Zähne. Danach wusch sie sich kurz das Gesicht mit kaltem Wasser, tuschte ihre Wimpern und legte farblosen Lipgloss auf. Sie verließ das Badezimmer, griff sich ihre schwarze Lederjacke und schloss die Wohnungstür hinter sich.

      Unten auf der Straße wendete sie sich spontan nach links. Sie hätte genauso gut nach rechts gehen können, da sie sich in dieser Stadt ohnehin noch nicht auskannte, aber sie ging eben nach links. Richtung Lüneburger Stadtkern. Das wusste sie zumindest. Sie schlenderte an geschlossenen Geschäften vorbei, schaute sich hier und da die Auslagen an und ließ sich treiben. An einem Zigarettenautomaten blieb sie stehen, steckte ihre EC-Karte in den Schlitz und zog sich eine Packung. Immer wieder blitzte in ihrem Kopf die Frage auf, ob ihre Entscheidung richtig gewesen war, hierher zu kommen. Nach Lüneburg. Mit den etwas über 70.000 Einwohnern so deutlich kleiner als München. Sie wusste, es war eine Flucht. Sie wusste auch, wovor sie floh, und sie hatte sich fest vorgenommen, hier ein neues Leben anzufangen. Mit allem, was dazugehörte. Vor allem mit dem Vergessen. Sie nahm eine Zigarette aus der jungfräulichen Packung und steckte sie sich im Gehen an. Normalerweise rauchte sie nicht auf der Straße. Aber heute machte sie eine Ausnahme. Zurzeit war sowieso nichts mehr wie früher.

      Katharina gab der schweren Tür einen kräftigen Ruck nach vorn, und schon stand sie in einem länglichen Raum, der wie ein zu breit geratener Flur wirkte. Kleine, runde, klapprige Eisentischchen, wie man sie vor allem bei alten Leuten auf dem Balkon findet, wechselten sich ab mit eckigen weißen Holztischen, die aussahen, als seien sie direkt aus dem Krankenhaus mitgenommen worden. Die Bestuhlung war ebenfalls gemischt und erinnerte an das Sammelsurium eines Trödelhändlers. Im Widerspruch dazu fiel die Ordnung auf: Alles stand in Reih und Glied an der linken Wand, wobei es anders aus Platzgründen auch gar nicht gegangen wäre. Gegenüber den Tischplätzen war gleich die Bar, die sich den ganzen Raum entlang zog. Die Beleuchtung war eher schummrig. Über dem Bartresen hingen gleichmäßig verteilt ein paar Kabel, die nur mit schwach flackernden Stromsparbirnen bestückt waren. Die Tische wurden von tropfenden Kerzen beleuchtet, die in leeren grünen Weinflaschen steckten. Draußen über der Tür hatte Katharina ›Café Krass‹ gelesen. Krass sah es hier tatsächlich aus. Vor etlichen Jahren hatte das sicher mal alles sehr szenig gewirkt. Heute hatte Katharina aber eher den Eindruck, als kenne der Besitzer nicht den Unterschied zwischen Café und Spelunke. Nun denn, jetzt war sie halt hier gelandet.

      Katharina überlegte kurz, wo sie sich hinsetzen sollte. Einer der Krankenhaustische war noch frei. Am Bartresen war niemand. Nur ein halb leeres Bierglas stand dort verloren herum. Sie entschied sich für den Tresen und dachte, dass sie noch vor ein paar Monaten das Bierglas als halb voll bezeichnet hätte. So änderten sich die Zeiten. Sie konnte sich später selber nicht erklären, warum, aber sie stellte sich genau an die Stelle des Tresens, an der das einsame Glas stand.

      19.23 Uhr

      Er knöpfte sich seine Jeans zu und drückte die Spültaste. Hier hatte sich in den letzten acht Jahren tatsächlich nichts verändert. Es standen sogar noch dieselben bekloppten Klosprüche an den Kacheln über dem Pissoir. Und es waren ein paar neue hinzugekommen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie zu entfernen. Einer war mit Bene unterschrieben. Er stammte von ihm selbst. ›Julie forever! Bene 2003‹ hatte er damals mit einem fetten Edding aus Jux an die Wand gekliert. Er konnte sich noch gut daran erinnern. Kurze Zeit später hatte er Lüneburg den Rücken gekehrt und sein Glück in Berlin gesucht. Ohne Julie. Bene drehte sich in dem engen Raum zum Waschbecken um und wusch sich die Hände.

      Was wohl aus Julie geworden war? Sicher lebte sie immer noch in dem kleinen Häuschen im Stadtteil Oedeme, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ob sie ’ne feste Beziehung hatte oder sogar verheiratet war? Was sie wohl sagen würde, wenn sie erfuhr, dass er wieder hier war? Er war sich selbst nicht sicher, was er davon halten sollte, aber das Angebot vom Hotel Heideglanz war einfach zu verlockend gewesen, um es auszuschlagen. Morgen würde er den neuen Job antreten und den reichen Gästen seine Cocktail-Variationen kredenzen. Bisher hatte er noch niemandem Bescheid gegeben, dass er seit einer Woche wieder hier war. Noch nicht einmal seine Eltern oder sein Bruder wussten davon. Nur Gerry, der Besitzer vom Krass, bei dem er jeden Abend aufgelaufen war. So wie auch heute.

      Julie