Kathrin Hanke

Blutheide


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entdecken können, oder sind wir hier erstmal durch?«

      »Wie man’s nimmt. Im Gürtel des Opfers hab ich einen Zettel gefunden, den hab ich schon an mich genommen. Wenn wir zurück auf der Dienststelle sind, werde ich ihn trocknen und versuchen, ihn heil auseinander zu falten. Vielleicht wissen wir dann, wer der Tote ist. Jana Helm, das junge Mädchen, das die Leiche gefunden hat, steht noch ziemlich unter Schock. Zur Not werden wir sie noch mal aufs Präsidium bestellen müssen, eben war nicht viel aus ihr herauszubekommen. Aber ich denke, mehr können wir hier im Moment nicht machen.«

      »Gut, dann tun wir dem Direktor einen Gefallen und verschwinden.«

      Zurück auf der Dienststelle nahm Katharina die Tüte mit dem sichergestellten Papierstück aus der Jacke, holte den Zettel mit einer Pinzette vorsichtig heraus und legte ihn auf die Fensterbank in die Sonne. Sie überlegte kurz, ob sie irgendwo einen Fön organisieren könnte, entschied dann aber, dass die Sonnenstrahlen genauso gut funktionieren müssten. Dann schnappte sie sich die bereits angelegte Akte des anderen Falles, von dem Rehder ihr am Morgen berichtet hatte. Bezüglich der Wasserleiche musste sie jetzt sowieso erst mal auf die ersten Untersuchungsergebnisse aus KTU und Pathologie warten.

      Bei dem vorhergegangenen Mordfall war das Opfer eine junge Studentin, 23 Jahre alt und Single. Sie war von einem Auto überfahren worden, und zuerst hatte alles nach Fahrerflucht ausgesehen. Dann war jedoch bei der Obduktion festgestellt worden, dass sie bereits tot gewesen war, bevor das Auto sie überrollte. Darum ging der Kommissar davon aus, dass der Täter versucht hatte, durch das Überfahren mit dem Auto den eigentlichen Mord zu vertuschen. Bisher gab es keinen einzigen Verdächtigen, nicht einmal einen wirklichen Ansatz. Auch die bereits in der Nacht informierte Familie – die Studentin war gebürtige Lüneburgerin – hatte keine hilfreichen Aussagen machen können. Katharina begann, die Akte noch einmal von vorn zu lesen. Vielleicht konnte sie ja doch einen entscheidenden Hinweis entdecken, um damit ihren Chef davon zu überzeugen, dass sie ihren Job gut machte und nicht nur hier in Lüneburg war, um amouröse Abenteuer zu erleben.

      17.42 Uhr

      Benjamin Rehder saß an seinem Schreibtisch. Sein Büro war nur durch eine Glaswand vom Nebenraum getrennt, sodass er die neue Kollegin an ihrem Arbeitsplatz sehen konnte. Normalerweise setzte er sich zusammen mit den anderen ins Großraumbüro, weil es einfach hilfreich war, um sich über den jeweils gerade aktuellen Fall untereinander auszutauschen. Manches Mal wusste er jedoch den Luxus zu schätzen, als ranghöchster Kommissar der Dienststelle auch ein eigenes Büro zu haben, in das er sich in besonderen Situationen zurückziehen konnte. Jetzt war so eine besondere Situation: Mit allem hatte er am Tatort gerechnet, mit nervenden Schaulustigen, mit der kaum vermeidbaren Presse in Gestalt des Lokalreporters Saalbach … aber ganz sicher nicht damit, dass sein Zwillingsbruder ihm plötzlich gegenüberstehen würde. Er war sich sicher, nach außen einen gelassenen Eindruck gemacht zu haben, was ihm wichtig war, doch in ihm drin hatte es definitiv anders ausgesehen. Acht Jahre war es her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. Dazwischen hatte es nur einige wenige Telefonate und ein paar Informationen durch seine Eltern gegeben.

      Er entließ ein »Pffffff« aus seinen gespitzten Lippen. Erst gestern hatte er an Benedict gedacht und ihn anrufen wollen. Benjamin Rehder fragte sich, seit wann sein Bruder wieder in der Stadt war und vor allem warum. Er schwankte zwischen Freude und Verunsicherung. Ohne Frage hatte ihm sein Bruder gefehlt. Doch es war einfach zu viel passiert in der Vergangenheit, als dass er sich jetzt unvoreingenommen freuen konnte. Er fühlte in sich hinein, ob er enttäuscht darüber war, dass Bene sich nicht gleich bei ihm gemeldet hatte, um ihm zu sagen, dass er wieder in Lüneburg war. Überrascht stellte er fest, dass es nicht so war. Er konnte seinen Zwilling sogar ein wenig verstehen, hatte er ihm doch damals mehr als deutlich gemacht, wie sehr er sein Verhalten und seine lockere Einstellung zum Leben verachtete. Ob Bene hier wohl wieder Fuß fassen wollte? Oder stattete er der alten Heimat nach all den Jahren nur einen kurzen Besuch ab und hatte es deswegen sowieso für unnötig befunden, sich bei ihm zu melden? Egal, wie es war, fest stand: Sie würden reden müssen. So bald als möglich. Am besten jetzt gleich. Zu lang schon hatte er, Ben, geschwiegen. Rehder wollte schon zum Telefon greifen, um seinen Bruder um ein Treffen zu bitten, als sein Blick erneut durch die Glasscheibe seines Büros auf Katharina von Hagemann fiel. Etwas musste er zuerst erledigen, bevor er mit Benedict sprechen würde. Er stand auf, ging in den Nebenraum und sprach Katharina an, die in eine Akte vertieft war. »Frau von Hagemann, wie sieht es aus – gehen wir zusammen ein Glas Wein trinken? Sozusagen, um auf Ihren Einstand anzustoßen?«

      Die neue Kollegin sah ihn etwas ungläubig an, und Benjamin Rehder war klar, dass er nicht sonderlich glaubhaft geklungen hatte. »Okay, ich sage es lieber gerade heraus: Ich muss mit Ihnen sprechen und ich würde das lieber in einer etwas unbürokratischeren Umgebung tun.«

      18.13 Uhr

      Katharina beobachtete ihren Chef Benjamin Rehder, während er sich mit einem Aschenbecher in der Hand einen Weg durchs Lebrello bahnte. Das moderne Bistro hatte er vorgeschlagen, und es war ein eindeutiger Kontrast zu der Lokalität am vergangenen Abend. Hier war alles sehr trendy und durchgestylt, eine typische Chill-out-Lounge. Katharina gefiel es hier auf jeden Fall, obwohl sie sehr gespannt und etwas unsicher war, was Rehder mit ihr besprechen wollte. Es hatte vorhin im Büro absolut nicht so geklungen, als wenn es etwas mit dem Fall zu tun hätte. Ob es um seinen Bruder ging? Wollte er etwa mit Katharina über ihre Verbindung zu seinem Zwilling sprechen? Katharina fand es zwar nach wie vor unglücklich, dass sie mit dem Bruder ihres Chefs im Bett gewesen war, aber letztlich war das ihre Privatsache. Genau das würde sie Rehder auch sagen, wenn er sie darauf ansprechen sollte. Außerdem würde sie ihn bitten, nicht über ihre jüngste Vergangenheit in München zu sprechen, falls er davon anfangen sollte. Katharina war sich sicher, dass er die Fakten aus ihrer Akte kannte. Er war schließlich ihr Vorgesetzter und hatte sich über seine neue Mitarbeiterin im Team ganz bestimmt schlaugemacht.

      »Hier im Lebrello gibt es wenigstens noch einen anständig großen Raucherbereich, ich dachte mir, das wäre Ihnen ganz recht.« Benjamin Rehder riss Katharina aus ihren Gedanken, als er den Aschenbecher auf den Tisch stellte und sich ihr gegenüber setzte.

      Katharina war sich nicht sicher, wie er das meinte. Bisher konnte sie ihn einfach nicht einschätzen, und sie hoffte inständig, dass sich das bald ändern würde. »Ja sicher, danke, aber wenn es Sie stört, dann können wir auch …«

      »Nein, nein, ich rauche selbst ab und zu, wenn mir danach ist, und heute ist mir definitiv danach.« Rehder holte eine Schachtel Zigarillos aus seiner Hosentasche und bot Katharina einen an.

      »Danke, aber ich bleib bei meinen eigenen«, lehnte Katharina freundlich ab, zündete sich selbst eine ihrer Zigaretten an und sah ihrem Chef erwartungsvoll ins Gesicht.

      »Hören Sie, Frau von Hagemann …« Rehder stockte. »Eines vielleicht vorweg: Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber die meisten von uns auf der Dienststelle duzen sich. Wenn Sie damit kein Problem haben, würde das einiges vereinfachen.«

      Katharina musste schmunzeln. »Ich weiß, das mit dem ›von‹ ist nervig. Meinetwegen können wir uns gern duzen.«

      »Gut, dann wäre das ja schon mal geklärt, meinen Vornamen kennen Sie – kennst du ja bereits. Wobei, die meisten nennen mich einfach Ben.«

      Benjamin wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte. »Also, Katharina, du kennst ja nun meinen Zwillingsbruder, und ich möchte dazu gern etwas sagen, bevor du es von anderer Seite erfährst.«

      20.51 Uhr

      Katharina schlenderte langsam durch die Straßen. Für den ersten Tag im neuen Leben war da eine ganze Menge los gewesen, und sie war ganz froh, sich jetzt auf dem Weg vom Lebrello zu ihrer Wohnung noch ein bisschen den Abendwind um die Nase wehen lassen zu können. Bis eben hatte sie mit Benjamin im Bistro gesessen. Sie hatten nicht über ihre Münchner Zeit gesprochen, Ben hatte ihre Vergangenheit mit keinem einzigen Wort angesprochen. Dafür hatte Katharina einiges erfahren, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Wie Benjamin ihr berichtete, hatten Benedict und er sich seit acht Jahren nicht mehr gesehen. Seit Benedict Lüneburg verlassen hatte. Und bis heute Morgen hatte ihr Chef offenbar keine Ahnung davon gehabt, dass sein Zwilling zurückgekehrt