hier nicht in München, wo es ein riesiges Team bei der Kripo gibt und jeder sich nach eigenem Gusto überlegen kann, ob er gerade Lust auf den Fall hat oder ihn lieber einem anderen überlässt. Wenn Sie sich das nicht zutrauen, dann …«
»Nein«, fiel Katharina ihm erschrocken und leicht verärgert ins Wort, »es tut mir leid, natürlich traue ich mir das zu. Es ist nur … sollten wir nicht auch über … ich meine …«
Das Telefon klingelte bevor Katharina einen Versuch unternehmen konnte, die delikate Situation anzusprechen. Rehder griff zum Hörer und meldete sich. Nachdem er einige Sekunden nur stumm zugehört hatte, sagte er: »Wo genau? Okay, wir sind gleich da.«
Während er zu seiner Jacke griff, die über dem Stuhl hing, wendete er sich Katharina zu und erklärte: »Wir haben eine neue Leiche, ist gerade aus dem Wasser gefischt worden. Die müssen wir auch übernehmen. Meinen Sie, Sie vertragen das?«
Der zynische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören, aber Katharina wollte sich nicht weiter provozieren lassen und antwortete so lässig, wie es ihr möglich war: »Sicher, ist ja nicht die erste Leiche, die ich zu sehen bekomme. Wo müssen wir hin?«
»Ins Hotel Heideglanz, das ist hier so ziemlich das, was man als das ›erstes Haus am Platz‹ bezeichnet. Man wird dort sicher nicht begeistert sein, wenn wir vor Ort ermitteln. Ich kenne den Hoteldirektor, das wird schon anstrengend, bevor wir die Leiche überhaupt zu sehen bekommen haben.«
Während der kurzen Fahrt zum Tatort informierte Rehder seine Kollegin über die wenigen Fakten, die man ihm am Telefon mitgeteilt hatte. Eine männliche Leiche, die offenbar schon etwas länger im Wasser gelegen hatte, bisher nicht identifiziert. Die Hotelterrasse lag direkt an einem kleinen Schleusenkanal, und die Leiche hatte sich offensichtlich im Gebälk der Terrasse verfangen, als sie von einer Angestellten entdeckt worden war.
»Ist die Spurensicherung schon vor Ort?«, fragte Katharina und versuchte, sich ganz und gar auf den Job zu konzentrieren. Sie wollte ihrem neuen Boss und Ex-Bettgenossen keine weitere Angriffsfläche bieten, auch wenn sie sein Verhalten mehr als befremdend fand.
»Ja, die sind schon da. Und wie es aussieht, nicht nur die …«
Rehder fuhr in die Auffahrt des Hotels, und sofort sah Katharina, was er meinte: Die Terrasse des Hotels war abgesperrt, doch auf einer nahegelegenen kleinen Brücke, von der aus man freien Blick auf den Außenbereich des Hotels hatte, hatte sich eine ganze Horde Schaulustiger versammelt.
Die beiden waren noch gar nicht ganz ausgestiegen, als ihnen schon ein großer, kräftiger Mann hektisch entgegenlief.
»Wusste ich’s doch. Das ist der Hoteldirektor«, raunte Rehder Katharina ins Ohr, sodass sie seinen Atem im Nacken spürte. Ihr lief ein kleiner, wohliger Schauer über den Rücken, da sich durch diese Intimität die Erinnerung an die letzte Nacht ihren Weg bahnte. Schnell entfernte Katharina sich einen Schritt von Rehder. Solche körperlichen Gefühle hatten hier jetzt nichts zu suchen. Darüber hinaus tat Rehder weiterhin so, als sei nichts vorgefallen. Was trieb er bloß für ein Spielchen mit ihr? Katharina riss sich zusammen. Was er konnte, konnte sie schon lang. Sie setzte ihre undurchdringliche Profimiene auf, die sie sich vor allem in der letzten Zeit in München antrainiert hatte, und schaute dem Hoteldirektor entgegen.
»Guten Morgen, Kommissar Rehder«, rief der Direktor schon aus der Entfernung. »Schrecklich, dass das ausgerechnet bei uns passieren muss! Ich hoffe, Sie können das so diskret wie nur irgend möglich regeln. Sie wissen schon, die Gäste …!«
»Hallo, Herr Gronau«, erwiderte Rehder knapp, »wir tun unser Bestes, aber ich kann Ihnen nichts versprechen. Noch haben wir ja nicht einmal den Tatort gesehen. Also lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen, ich halte Sie auf dem Laufenden. Halten Sie sich aber bitte weiterhin zu unserer Verfügung und sorgen Sie dafür, dass auch das Personal, das heute Morgen hier war, vor Ort bleibt, falls wir Fragen haben. Am besten erstellen Sie eine Liste der Angestellten, die Dienst hatten. Ob es nötig sein wird, Ihre Gäste zu befragen, kann ich noch nicht sagen.«
»Um Gottes willen, ich hoffe, das bleibt uns erspart! Aber ich sichere Ihnen selbstverständlich meine volle Unterstützung zu, wenn wir die Angelegenheit dadurch beschleunigen können. Ich kümmere mich umgehend, die Leiche finden Sie ja sicher auch ohne mich.« Gronau verschwand hinter dem Empfangstresen, während die Kommissare die Hotelterrasse betraten, um sich dann zu trennen.
Es herrschte das übliche sortierte Gewusel am Tatort, das Katharina aus den Jahren bei der Polizei längst vertraut war. Die Tätigkeiten der einzelnen Polizeieinheiten waren im Prinzip immer gleich: Die uniformierten Kollegen waren dabei, Personalien aufzunehmen, die Spurensicherung ging mit mehreren Leuten ihrer Aufgabe nach, und der Fotograf schoss Fotos rund um die Fundstelle und von der Leiche. Katharina empfand bei aller Vertrautheit mit den Abläufen immer noch eine gewisse Faszination bei diesem Szenario, das sich immer dann bot, wenn ein neuer Fall begann. Aber als noch viel spannender empfand sie das, was unabhängig von der eigentlichen Polizeiarbeit im Hintergrund vor sich ging. Es war viel unauffälliger, konnte aber mindestens genauso wichtig für ihre Ermittlungen sein.
Sie ließ ihren Blick schweifen. In der Ecke der Terrasse saß eine junge Frau, die äußerst geschockt wirkte. Der Kleidung nach zu urteilen, gehörte sie zum Hotel. Vermutlich war sie diejenige, die die Leiche am Morgen entdeckt hatte. Eine Kollegin saß bei ihr und redete beruhigend auf sie ein. Aus den Fenstern der Hotelzimmer, die zur Terrasse gingen, schauten sich einige Gäste das Treiben von oben an. Die restlichen Angestellten des Hotels versuchten zwar, ihren Aufgaben nachzugehen, doch Katharina bemerkte hier und da einige von ihnen an den Fenstern der Innenräume. Die Brücke, die sie bei der Ankunft durch Rehders Bemerkung bereits registriert hatte, hatte sich zwischenzeitlich noch weiter gefüllt. Während Katharinas Blick jetzt durch die Schaulustigen wanderte, hatte sie kurz das Gefühl, ihren Chef Kommissar Rehder in der Menge gesehen zu haben. Doch sie musste sich getäuscht haben, denn als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Terrasse richtete, sah sie ihn mit jemandem von der Spusi sprechen. Sie ging wieder zu ihm rüber und hoffte darauf, dass er ihr eine konkrete Aufgabe zuteilen würde.
»Frau von Hagemann«, setzte Rehder auch prompt an, »da drüben, die junge blonde Frau, das ist Jana Helm. Sie arbeitet hier im Service und hat die Leiche entdeckt. Würden Sie bitte eine erste Befragung vornehmen?«
»Klar, mach ich«, antwortete Katharina. Sie hatte also eben mit ihrer Vermutung richtig gelegen, dachte sie, während sie sich auf den Weg zu der jungen Frau machte, die nach wie vor verängstigt in der Ecke saß.
10.09 Uhr
Bene hatte sich ein wenig abseits gestellt und beobachtete aus den Augenwinkeln die Frau, mit der er die letzte Nacht verbracht hatte und die sich in den frühen Morgenstunden aus seiner Wohnung geschlichen hatte. Natürlich hatte er es bemerkt, doch er hatte sie nicht zurückgehalten. Ihm war es ganz recht gewesen – bloß keine Verbindlichkeiten! – und außerdem war er davon ausgegangen, ihr sowieso bald wieder über den Weg zu laufen. Das ließ sich im überschaubaren Lüneburg kaum vermeiden und war ganz in seinem Sinn. Dass er sie allerdings dermaßen schnell wiedersehen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Irgendwie freute er sich, obwohl die Umstände nicht gerade seinen Vorstellungen entsprachen.
Katharina gehörte durchaus zu der Kategorie Frau, die ihn auch ein zweites Mal reizen würde. Schon allein deshalb, weil sie einfach so sang- und klanglos aus seinem Bett verschwunden war. Für ihn war das ein Zeichen von Souveränität, die er eher selten bei Frauen erlebt hatte, die er sonst so abschleppte. Normalerweise wollten sie nach einer gemeinsamen Nacht auch noch ein gemeinsames Frühstück und machten keinen Hehl daraus, auf der Suche nach einem männlichen Gegenstück zu sein. Es war nicht immer das reinste Vergnügen, ihnen klar zu machen, dass er genau dafür nicht zur Verfügung stand. Katharina aber imponierte ihm. Wie er in der vergangenen Nacht mehrmals hatte feststellen können, war sie eine Frau, die wusste, was sie wollte. Bei diesem Gedanken musste er schmunzeln. Oh ja, sie wusste sogar sehr genau, was sie wollte, und das hatte mächtig Spaß gemacht. Viel geredet hatten sie zwar nicht gerade, aber trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, mit ihr auf einer Welle zu sein. Und außerdem sah sie wirklich toll aus mit ihren roten Locken, ihrem fein geschnittenen Gesicht und der nach seinem Gusto geradezu