fand. Ja, Katharina war definitiv ganz nach seinem Geschmack. Einer Eingebung folgend, setzte Bene sich in Bewegung und drängte sich durch die Schaulustigen auf Katharina zu, die nach wie vor bei der Hotelangestellten stand und leise auf die junge Frau einredete. Katharina war also Polizistin. Das wiederum gefiel Bene nicht unbedingt.
Bene rechnete damit, dass sich hier noch jemand herumtrieb, den er kannte, doch bisher hatte er ihn noch nicht entdecken können. Bei dem Gedanken an seinen Bruder beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Er hätte sich längst bei ihm melden sollen. Spätestens jetzt, wo er wieder hier war. Aber irgendetwas hatte ihn davon abgehalten. Sie hatten sich damals nicht gerade unter besten Umständen voneinander getrennt. Bene hatte seinen Bruder enttäuscht. So wie er ihn Zeit ihres gemeinsamen Lebens enttäuscht hatte, weil er es immer wieder schaffte, in Schwierigkeiten zu geraten, und sein Bruder ihn ständig vor der ultimativen Katastrophe bewahren musste. Beim letzten Mal war das Fass aber übergelaufen. Sein Bruder hatte ihm klipp und klar gesagt, dass Bene ab jetzt auf sich allein gestellt sei, und dann hatte er den Kontakt abgebrochen. Bene hatte das akzeptiert. Zuerst aus Schamgefühl, dann, weil er nicht wusste, wie er wieder an die Familienbande anknüpfen sollte. Dennoch hatte er die ganzen Jahre seinen Bruder, den Fels in der Brandung, der so ganz anders war als er selbst, vermisst. Mehr noch als Julie, denn dieses Vermissen war bald verblasst und inzwischen einer schönen Erinnerung an alte Zeiten gewichen. Mit seinem Bruder war das anders. Mit ihm verband ihn einfach sein komplettes Leben. Hin und wieder erfuhr Bene von seiner Mutter, was ›der Große‹ so trieb, aber das war es dann auch. Rohe Eckdaten eben.
Ob Katharina und sein Bruder sich wohl bereits kannten? Aber nein, dann hätte sie das sicher erwähnt. So wie eigentlich jeder, der erst den einen und dann den anderen Bruder kennenlernte. Bene erinnerte sich auch vage daran, dass Katharina ihm erzählt hatte, dass sie heute einen neuen Job anfangen würde und erst gestern in die Stadt gekommen war. Wahrscheinlich war sie seinem Bruder also noch gar nicht über den Weg gelaufen.
Bene war nun bis an die Absperrung der Terrasse gelangt und blieb unschlüssig stehen. Er sah, wie Katharina immer noch leise mit der jungen Blondine sprach und sich dabei Notizen machte. Jetzt klappte sie ihren Block zu, stand von ihrem Stuhl auf und legte dem Mädchen noch einmal beruhigend die Hand auf die Schulter. Als sie sich nun umdrehte, traf ihr Blick genau auf seinen. Ihr Mund formte ein stilles ›Oh‹. Dann kam sie direkt auf ihn zu.
»Wieso … wieso haben Sie sich denn umgezogen?« Katharina schaute Bene verwirrt an.
»Na ja, im Adamskostüm wäre es jetzt wohl ein wenig kalt«, erwiderte Bene schlagfertig, wie er fand. Gleichzeitig war er ernüchtert. Warum siezte Katharina ihn, und warum schaute sie ihn jetzt so entsetzt an? Die Art der Begrüßung überraschte ihn, er hatte sie für cooler gehalten. Doch dann stutzte er: Inzwischen guckte sie gar nicht mehr ihn an, sondern haarscharf an seiner rechten Schulter vorbei. Bene drehte sich um und sah sich seinem Spiegelbild gegenüber.
»Benjamin!«, entfuhr es Bene. Benjamin Rehder sagte gar nichts. Er stand nur da. Ganz ruhig. Dann sagte er zu Katharina gewandt: »Frau von Hagemann, darf ich vorstellen: Benedict Rehder, mein Zwillingsbruder.«
10.27 Uhr
Katharina konnte nur fasziniert von einem zum anderen gucken. Innerlich musste sie beinahe lachen, aber sie riss sich zusammen, um es niemanden merken zu lassen. Immerhin hatte sie nicht mit ihrem Chef geschlafen, das war schon mal eine Menge wert. Sie würde jetzt erheblich entspannter mit ihm umgehen können. Unangenehm war ihr die ganze Geschichte trotzdem, denn Benedict hatte soeben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie beide sich schon begegnet waren, und den Rest würde sich der Kommissar vermutlich allein zusammenreimen können. War ja schließlich sein Job, zwischen den Zeilen zu lesen. Ansonsten waren die beiden Brüder in Katharinas Augen merkwürdig distanziert miteinander umgegangen, aber das ging sie nichts an. Um der merkwürdigen Situation möglichst schnell zu entkommen, hatte sie sich darauf berufen, wieder an die Arbeit gehen zu müssen. Zudem war sie sich auch überhaupt nicht im Klaren darüber, wie sie mit Bene – oder Benedict, wie sie jetzt wusste – umgehen sollte und wollte auch nicht länger seinem intensiven Blick ausgeliefert sein. So nickte sie beiden kurz wortlos zu und machte sich weiter an ihre Arbeit, denn darum war sie ja schließlich hier.
Katharina betrachtete die Leiche, die zweifellos schon ein paar Tage im Wasser verbracht hatte. Mit der Identifizierung würde es nicht einfach werden, zumal man bisher bei dem Toten keinerlei Papiere gefunden hatte. Eindeutig war lediglich eine Wunde in der Herzgegend, denn der Blutfleck war nicht zu übersehen. Dunkle Erinnerungen stiegen in Katharina hoch, doch sie verdrängte sie sofort und wendete sich einem Kollegen der Spurensicherung zu, der neben ihr stand.
»Haben Sie irgendetwas bei der Leiche gefunden?«, fragte sie ihn ohne Einleitung und dann: »’tschuldigung, Katharina von Hagemann, das ist heute mein erster Tag.«
»Na, das ist ja kein so toller Start«, antwortete der Kollege trocken. »Bisher haben wir gar nichts gefunden, wir sind aber auch noch nicht ganz durch. Ich denke mal, so in 20 Minuten können wir ihn abtransportieren lassen. Ich bin übrigens Bodo, Bodo Schmitt.«
»Haben Sie da schon nachgesehen?« Katharina bückte sich, streifte sich dünne Einweghandschuhe über und sah sich den Gürtel des Opfers an. Es war einer dieser Gürtel mit einem Reißverschlussfach, in dem in der Regel gerade genug Platz für ein paar Münzen oder Ähnliches war. Für Katharina war so ein Gürtel der Inbegriff von Spießigkeit, aber für solche Gedanken war jetzt nicht der richtige Moment. Es dauerte etwas, bis der Verschluss sich aufziehen ließ. Sie konnte ein kleines Stück Papier sehen, wollte es aber lieber nicht herausziehen, aus Angst, es vielleicht zu beschädigen.
»Hier ist was. Können Sie das heil rausbekommen? Vielleicht finden wir da ja einen Hinweis auf seine Identität.«
Der Kollege war augenscheinlich nicht begeistert, dass ihm das Gürtelfach bisher nicht aufgefallen war, schnappte sich aber kommentarlos eine Pinzette und zog einen mehrfach zusammengefalteten Zettel hervor.
»Und?«, fragte Katharina neugierig.
»Hm, auf jeden Fall ist es kein zusammen geknuddelter Kassenbon«, erwiderte Bodo, der die Pinzette mitsamt dem Zettel vor seinen Augen hin und her wendete und dann Katharina vor die Nase hielt.
»Das Papier sieht eher wie Notizpapier aus und es scheint etwas darauf geschrieben zu sein. Sehen Sie, an den Ecken hat er eine blassblaue Färbung, wie von verlaufener Tinte. Wollen Sie ihn gleich mitnehmen?«, fragte er Katharina. »Ich denke, Sie sollten ihn aber etwas trocknen lassen, bevor Sie ihn auseinanderfalten.«
Katharina nahm eines der Plastiktütchen, die sie stets mit sich trug, aus ihrer Jackentasche, und der Kollege ließ das durchnässte Stück Papier vorsichtig hineingleiten. »Danke, ja. Vielleicht hilft es uns ja tatsächlich weiter.«
Nachdem sie die Tüte vorsichtig in der Innentasche ihrer Lederjacke verstaut hatte, sah Katharina sich erneut am Tatort um. Dabei entdeckte sie einen Mann um die 40, der mit einer Kamera durch die Gegend lief und Fotos machte. Der Polizeifotograf war es nicht, den hatte sie schon gesehen, als sie angekommen waren. Sie ging auf den Mann zu, doch Rehder kam ihr zuvor.
»So, so, die Presse ist also auch schon wieder vor Ort. Hallo, Toffi.« Kommissar Rehder gab dem Typen mit der Kamera die Hand. »Hör zu, du kennst das Spiel. Direkt am Tatort hast du nichts zu suchen, die Absperrung gilt auch für dich, okay?«
»Schon gut, Benjamin, ich bin ja gleich weg. Ich mach hier auch nur meinen Job, genauso wie du.«
Mürrisch bückte sich der Mann mit der Kamera unter dem Absperrband hindurch und trat zwischen die Zuschauer, die immer noch nicht die Lust am Gaffen verloren hatten.
Katharina trat neben ihren Chef. »Toffi? Was ist denn das für ’n Vogel?«
Benjamin Rehder musste grinsen. »An den müssen Sie sich gewöhnen. Toffi, also eigentlich Christofer Saalbach, schreibt für den ›Lüneblick‹, das ist hier die örtliche Tageszeitung. Den kenn ich schon seit meiner Schulzeit, war damals auch schon etwas schräg drauf. Er kennt jeden in Lüneburg und ist immer als erster Reporter vor Ort. So unscheinbar er wirkt, von seinem Job scheint er was zu verstehen, auch wenn das aus unserer Sicht nicht gerade immer angenehm ist.