Folgen mußte man Gustav mühsam aus der Nase ziehen.
»Und was hast du gemacht, wenn du gemußt hast?«
»Dann, mein werter Vetter, habe ich in eine eigens dafür bestimmte Flasche hineingestrullt, und wenn es dicker gekommen ist, hat man mir eine Pfanne untergeschoben, mit langem Stiel und breitem Rand. Im allgemeinen sind dafür die Bezeichnungen ›Schieber‹ oder ›Stechbecken‹ gebräuchlich. Zufrieden?«
Im Wochenblatt studierte Oma immer als erstes die Todesanzeigen, auf der Suche nach den Namen von Bekannten, die das Zeitliche gesegnet haben könnten, völlig unerwartet oder auch nach langer, schwerer Krankheit. Der größte Teil von Omas und Opas Bekanntenkreis lag bereits unter der Erde, und es paßte irgendwie dazu, daß das Jeversche Wochenblatt die älteste Zeitung Deutschlands war. Seit 1791 auf dem Markt, das mußte man sich mal vorstellen.
Gustav erschien mit der neuen Zeit, und die enthielt meinen Beitrag über die Umgangssprache. Wieder 25 Eier! Dieser guten Nachricht des Tages folgte am frühen Abend die schlechte, daß Renate bei der Fahrprüfung in Meppen durchgefallen sei. Angeblich hatte sie das Fahrzeug vor einem Stoppschild nicht bis zum völligen Stillstand abgebremst.
Während in Bonn schon die Koalitionsverhandlungen anfingen, tobte in den USA noch der Wahlkampf. Im Fernsehduell mit Jimmy Carter war dem Präsidenten Gerald Ford dabei ein grober, möglicherweise wahlentscheidender Schnitzer unterlaufen, als er einfach rundweg abgestritten hatte, daß es eine sowjetische Vorherrschaft in Osteuropa gebe. Selbst Polen und Rumänien, hatte Ford behauptet, seien unabhängige Länder.
Und dieser Schafskopf amtierte als Präsident der Vereinigten Staaten!
»Falls du dir von dem demokratischen Erdnußfarmer Jimmy Carter größere intellektuelle Leistungen erhoffen solltest, kann ich dir nur empfehlen, dich erst einmal selbst mit den politischen Gegebenheiten in anderer Herren Länder vertraut zu machen«, sagte Gustav. »Könntest du mir beispielsweise aus dem Stegreif einen Vortrag über die geopolitische Situation in Ozeanien halten?«
»Nein, aber ich will ja auch nicht Präsident von Amerika werden.«
»Das könntest du auch gar nicht als Deutscher. Aber wenn du glaubst, daß du dich in der Welt besser auskennst als der Präsident der Vereinigten Staaten, mußt du dir schon gefallen lassen, daß man sich im Gespräch mit dir ein Bild von deiner eigenen Weltläufigkeit verschaffen will! Wie heißt beispielsweise der Bürgermeister von Meppen?«
Was hatte denn wohl der Bürgermeister von Meppen mit den Patzern des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu tun?
Aufreizend behäbig stopfte Gustav seine Pfeife, und er bat mich um die Erlaubnis, mein Schweigen dahingehend interpretieren zu dürfen, daß mir der Name des Meppener Bürgermeisters mitnichten geläufig sei.
»Na und?« sagte ich.
Zu weiteren Auskünften war Gustav erst bereit, als er seinen Stinkadori nach allen Regeln der Kunst in Betrieb gesetzt hatte, und dann mußte ich mich darüber belehren lassen, daß es nicht angängig sei, sich als Vierzehnjähriger ein Urteil in weltpolitischen Fragen herauszunehmen, wenn man noch nicht einmal auf der niedersten kommunalpolitischen Ebene der eigenen Heimatregion Äpfel von Birnen unterscheiden könne. »Wenn du mir allerdings bei deiner nächsten Fernreise nach Friesland den Namen deines Bürgermeisters verrätst, dann bin ich gern dazu bereit, mit dir auch einmal über die Salt-II-Verhandlungen und die Hegemonie der Sowjetunion zu disputieren …«
Und ich fand die Weltpolitik trotzdem interessanter als die Hegemonie der emsländischen CDU.
Eine noch viel herbere Niederlage als die auf dem Bökelberg mit 3:1 abgefertigten Fortunen aus Düsseldorf mußte am Samstag Bayern München hinnehmen – 0:7 gegen Schalke! Und das zuhause, im Olympiastadion! Viermal hatte allein Klaus Fischer zugeschlagen. Vier Tore gegen Sepp Maier, in einem einzigen Spiel: Das war rekordverdächtig. In dieser Form bildeten die Bayern jedenfalls keine Gefahr für Gladbachs Titelambitionen.
In dem Walt-Disney-Taschenbuch, das ich mir für die Rückfahrt gekauft hatte, flog Donald Duck unter dem Decknamen Phantomias als Superheld durch die Gegend. Ich dachte zuerst, das gibt’s doch nicht. Wer will denn den als Superhelden in Aktion sehen? Der soll sich mit Ahörnchen und Behörnchen in die Wolle kriegen oder seinen Neffen ihre Taler aus dem Sparschwein stehlen, um Daisy zum Dinner einladen zu können, aber doch nicht am Himmel herumdüsen, unter Vernachlässigung aller Gesetze der Schwerkraft! Das war ungefähr so sinnvoll, wie wenn Stan und Ollie die Rollen mit Terence Hill und Bud Spencer getauscht hätten.
Als ausgebuffter Profi hätte Walt Disney das eigentlich wissen müssen.
»Dein Freund aus Vallendar hat dir geschrieben«, sagte Mama, als sie mich in Meppen vom Bahnhof abholte, aber nach dem Brief mußte ich dann fast ’ne halbe Stunde lang suchen, bis er sich in den Geröllschichten auf dem Klavier anfand.
Hallo, hallo …
Dein Vorwurf ist berechtigt. Ich bin längst dran mit Schreiben. Aber Schreiben erinnert mich zu sehr an HAUSAUFGABEN (welch schreckliches Wort), und deshalb hab ich’s gelassen.
Viel los ist ohnehin nicht. Es regnet. Dauernd. Ständig. Ohne Unterlaß. Wenigstens heute hatten wir Besuch aus Amerika. Eine verflossene Arbeitskollegin meines Vaters, die nach dorthin gezogen ist, kam mal vorbei. Mit ihren zwei Kindern. Das eine war noch Säugling, das andere 4 Jahre alt. Sprach kein Wort Deutsch. Daß es Deutsch jedoch verstand, erfuhren wir erst, als Holger bereits einigemale (zu recht) gesagt hatte (und zwar laut und im Beisein des Vierjährigen), daß der eine Pestbeule sei. Nun ja.
Du hast Ferien? Wie denn das? Etwa schon Herbstferien? Die kriegen wir erst am 29.! Skandal! Und am 27. schreiben wir noch ’ne Deutscharbeit. Es ist zum Weinen.
Unser Kassettenrekorder befindet sich wieder in der Reparatur. Zum dritten Mal (in zwei Monaten). Und immer wegen des gleichen Defekts. Und im Januar läuft die Garantie ab. Au weh. Beim nächsten Mal fragen wir aber, ob wir das Scheißding nicht umtauschen können. Glaub ich allerdings kaum. Auf dem Garantieschein steht irgend so ’ne Klausel.
Ich werde mich bemühen, den Brief hier morgen oder übermorgen oder … äh … also ich werde versuchen, mich zu bemühen, diesen Brief schnellstmöglich abzuschicken.
Schö – es grüßt der DMGS.
Ich konterte mit einem kurzen Schreiben, dem ich das Zeitungsfoto von Dregger und mir beilegte, und nachdem ich den Brief eingeworfen hatte, kamen wir zwei Weiber auf dem Rad entgegen. Irgendwie muß ich wohl ziemlich doof gekuckt haben. Die brachen jedenfalls in Lachen aus, als sie an mir vorbeigefahren waren, und ich verkroch mich in mein Zimmer.
With only solitude to meet me like a friend …
Und von unten bölkte Papa: »Bring sofort das Fahrrad in den Keller!«
Am 3. Oktober hatten auch Kommunalwahlen stattgefunden. Im Meppener Rathaus hatte die CDU zwei Plätze verloren, einen an die SPD und einen an die FDP, aber mit 26 von 37 Plätzen konnte die CDU noch immer nach Gutdünken schalten und walten.
Bei einer Tour durch das Waldgestrüpp zwischen E-Stelle und Nordradde fand ich in einer Blätterkuhle ein teils aufgeweichtes und teils pappig hartes Sexheft. Welche Sau das wohl da hingeworfen hatte?
Weil ich als Nachwuchsjournalist noch immer im Geld schwamm, forderte ich bei Zweitausendeins postalisch eine LP von Joan Baez mit einer Stunde Spielzeit an, für acht Mark neunzig plus Versandkosten. Die Bestellnummer mußte man hinten in den Coupon neben dem Brief von Frau Susemihl eintragen, die die Bestellungen bearbeitete.
Auf dem oberen Flur hätten Volker und ich die alte Carrera-Bahn wieder aufbauen können, dachte ich, aber Volker zeigte mir nur ’n Vogel.
Na schön. Wenn der Idiot so hoch über den Dingen schwebte, hatte er ja wohl auch nichts dagegen, daß ich mir aus seinem Parka an der Flurgarderobe zwei Zigaretten borgte.