Geschrei über die beste Methode des Ausquetschens einer weitgehend ausgemolkenen Zahnpastatube, und von unten keifte Renate herauf: »Kommt ihr jetzt mal bald zum Frühstück runter, ihr lahmen Säcke?«
Ein Segen, dachte ich, daß ich mich nicht als übermüdeter Zuschauer der fünfzehn Runden in den Kampf ums Dasein stürzen mußte, sondern halbwegs ausgeschlafen war, und ich stellte mich auf einen normalen Scheißschultag ein, bis Renate beim Frühstück die Meppener Tagespost aufschlug und kreischte: »Ich lach mich tot! Das bist ja du!«
Verarschen kann ich mich alleine, dachte ich, aber Renate hatte recht. Im Lokalteil prangte ein gestochen scharfes Foto von Alfred Dregger und mir, und untendrunter stand:
Nach der Kundgebung kamen die Autogrammjäger zu ihrem Recht.
Oh no! Das war ja der Beweis dafür, daß ich Mathe geschwänzt hatte, und der lag nun sämtlichen Abonnenten der Meppener Tagespost vor, schwarz auf weiß!
Und es hätte noch viel schlimmer kommen können, denn irgendein Idiot hatte das Foto ausgeschnitten und ins Klassenbuch gelegt, aber der Schlüter schenkte dem Fundstück zum Glück keine große Beachtung, sondern drohte mir nur scherzhaft mit dem Zeigefinger, und dem Mathelehrer war es gar nicht aufgefallen, daß Hermann und ich gefehlt hatten.
Nach einem 3:0-Sieg über eine österreichische Außenseitermannschaft hatte Gladbach im Europapokal die nächste Runde erreicht. In jüngeren Jahren hätte ich sämtliche Ergebnisse des Wettkampfs um die großen europäischen Trophäen sowie die Torfolgen mitsamt den Namen aller Schützen säuberlichst in einer Kladde vermerkt, aber das konnte man ja auch alles im nächsten Kicker nachlesen, also was soll’s?
Gegen den FC Porto hatte Schalke in den letzten vier Minuten aus einem 1:2 ein 3:2 gemacht, und auch Abramczik hatte ein Tor geschossen.
In Deutsch schob Hermann mir sein Reclamheft rüber und tippte auf einen mit Bleistift unterstrichenen Satz, den Goethe einem schißhasigen, vor Götz von Berlichingen und dessen Leuten fliehenden Knecht in den Mund gelegt hatte: »Ich steck mich ins Rohr.«
Da waren wohl Schilfrohre gemeint.
Viel blöder fand ich das krampfhafte Eindeutschen englischer Königsnamen. Da wurden Henry, Charles und James in Heinrich, Karl und Jakob umgetauft, aber wenn denen einer auf der Straße »Hallo, Heinrich!«, »Hey, Karl!« oder »Tagchen, Jakob!« zugerufen hätte, wären die doch nicht mal stehengeblieben, sondern weitergelatscht, tief versunken in Gedanken an die Habeascorpusakte.
Eine ganz andere Frage warf der Physikpauker Pöttering auf, »aber die kann uns ja vielleicht der junge Herr Schlosser beantworten, wenn er die Güte besitzt, sich aus seinen Tagträumen loszureißen. Also?«
Also was? Der Arschkeks wußte doch genau, daß ich nicht aufgepaßt hatte. Ich merkte, daß ich rot wurde, und als sich welche nach mir umdrehten, noch röter.
»Wir haben uns gerade gefragt«, sagte der Pöttering, »ob sich der Auftrieb eines waagerecht in Wasser getauchten Brettes ändert, wenn man es vertikal stellt.«
Aha. Vertikal, das hieß – was hieß das noch? Senkrecht? Ein senkrecht gestelltes Brett und dessen Auftrieb in einem Wasserbad. Auftrieb, das war der Dings, der scheinbare Gewichtsverlust in Wasser, wie mir wieder einfiel, und nun mußte ich mit einer Antwort rüberkommen, denn inzwischen hatte sich die halbe Klasse zu mir umgedreht, um das Schauspiel meiner Folterung zu genießen. Änderte sich der Auftrieb? Ja oder nein? Die Chancen standen fifty-fifty.
»Nein«, sagte ich.
Der Pöttering, von dessen Feindseligkeit ich bis zu dieser Stunde noch gar nichts geahnt hatte, wanderte vor der Tafel umher, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt, und sah dabei zur Decke hoch. »Und was veranlaßt dich zu dieser Vermutung?«
Irgendwas mußte ich sagen. Irgendwas anderes als die Wahrheit, daß ich nur geraten hatte. »Weil Bretter im Wasser nicht senkrecht stehenbleiben«, sagte ich. »Die kippen um.«
Der Pöttering hielt inne und schnitt ein Gesicht, als ob er ’ne Zitrone gefressen hätte.
»Wegen dem Auftrieb eben«, schob ich nach, zur Erklärung, und wenn ich sonst noch was zu sagen gehabt hätte, wäre es im Gelächter der Klasse untergegangen. Und dann im erlösenden Pausenklingeln.
Ihr Hühnerficker, ihr bekotzten!
Warum konnte nicht jeder Schüler eine Einzelkabine haben, mit freier Sicht aufs Lehrerpult, aber ohne Blickkontakt zu den Mitschülern? Das wäre mir lieber gewesen als alle Klassenzimmer, in denen man herumsaß wie auf dem Präsentierteller.
Nach der Tagesschau trafen die Spitzenvertreter aller vier Parteien aufeinander, Schmidt und Genscher, Kohl und Strauß, zum letzten direkten Schlagabtausch vor der Wahl. Das war die sogenannte Elefantenrunde, und die sahen sich auch Renate und Volker an, nur Wiebke nicht, weil die sich mehr fürs Nasebohren interessierte als für Politik.
Es ging auch gleich gut los. Helmut Schmidt zitierte jemanden, der geschrieben hatte, daß die Deutschen dem Ziel einer gerechten und humanen Ordnung noch nie so nahegekommen seien wie in der Bundesrepublik, die einen hervorragenden Platz in der Staatenwelt einnehme, und Franz-Josef Strauß brauste auf: »Ja, die Darstellung, die Herr Schmidt von der wirklichen Lage der Bundesrepublik auf den eben angeschnittenen Gebieten gibt, ist mehr ein Poesiealbum als eine die Wirklichkeit treffende Darstellung unserer Probleme!« Und dann meckerte er über die Wirtschaftskrise, die Fehler in der Steuerpolitik und die Zahl der Arbeitslosen, die zehn Milliarden Mark Unterstützung kosteten. Und Schmidt konterte damit, daß das Zitat, das er vorgelesen hatte, aus einem Aufsatz von Helmut Kohl stammte. Gut gegeben!
Kohl kam ziemlich ins Schwitzen bei seiner Erwiderung, und er suchte dann sein Heil in der Kritik an der sozialistischen Indoktrination in deutschen Schulen, aber davon hatte ich am Kreisgymnasium noch nichts gemerkt.
»Für ’ne Führungsposition ist der zu schwach«, sagte Renate, häkelnderweise. »Der windet sich doch wie ’n Aal, wenn er was gefragt wird. Armes Deutschland!«
Die meisten von Hans-Dietrich Genschers Gesprächsbeiträgen fingen mit den Worten an: »Darf ich zunächst noch mal feststellen, daß …« Und dann kam irgendwas wahnsinnig Langweiliges, das im Zigaretten- und Pfeifenqualm unterging.
Um Viertel nach zehn hatte die Debatte zuende sein sollen, aber sie dauerte bis Mitternacht, und da versuchten Kohl und Strauß noch schnell, der Bundesregierung die Verantwortung für den Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze in die Schuhe zu schieben, und danach lief Einsatz in Manhattan, für Leute, die an diesem Tag noch immer nicht genug gesehen und gehört und gehäkelt hatten.
In Mathe kam das d’Hondtsche Wahlsystem aufs Tapet, ein kompliziertes Verfahren der Sitzverteilung, das der Rechtswissenschaftler Victor d’Hondt ausgebrütet hatte. Dabei spielten auch das Kumulieren und Panaschieren von Erst- und Zweitstimme eine Rolle. Ich strengte mich an, um das zu durchschauen, und einmal war ich auch kurz davor, aber dann klappte es irgendwie doch nicht.
Leichter zu begreifen war der parlamentarische »Hammelsprung«. Da mußten alle Abgeordneten den Plenarsaal verlassen, und je nachdem, durch welche Tür die Mehrheit wieder hereinspazierte, fiel das Ergebnis der Abstimmung aus.
Hinter den Kulissen des Bundestags ging’s wahrscheinlich mit Hauen und Stechen zu. Na ja, immer noch besser als die lachhafte Brüderlichkeit in der Volkskammer der DDR, wo immer alle ein und dieselbe Meinung haben mußten.
In England gab es Oberhaus und Unterhaus, in den USA Kongreß und Senat, in der UdSSR den Obersten Sowjet und in China den Nationalen Volkskongreß. Wie sollte man sich das alles merken?
Knesset, Folketing und Sejm.
Der letzte Schultag vor den Herbstferien war auch Renates letzter Arbeitstag bei Comet, aber da konnte sie nicht hintänzeln wie eine Dancing Queen, denn sie hatte sich über Nacht eine fette Erkältung eingefangen, mit allen Schikanen, einschließlich Heiserkeit, Matschbirne und Gleichgewichtsstörungen.
Im Wahlkampf hatten die Regierungs-