Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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eß ich dann wieder nur Quark«, sagte sie. Neun Pfund hatte sie angeblich schon abgenommen. Und am Montag wollte sie mal irgendwo in Bonn anrufen und höheren Orts ihre Lage schildern. Studienplätze könne man ja auch tauschen.

      Wiebke aß nur eine Spatzenportion, und Mama verschränkte die Arme vorm Bauch, weil sie fror, und dann ging sie rein, um die Ziehung der Lottozahlen nicht zu verpassen. Papa, der an der Fleischfresserei keinen Gefallen fand, war aus dem Keller gar nicht erst nach oben gekommen.

      »Ich schrei Kakao!« rief Mama im Wohnzimmer. »Schon drei Richtige! Und jetzt geht’s weiter! Kommt mal alle her!«

      Auch drei Richtige bildeten noch keine Garantie für ein sorgenfreies Leben. Die 49, die 12 und die 9 waren aus der Lostrommel gezogen worden, und Mama hatte alle diese Zahlen auf einem Feld ihres Lottoscheins angekreuzt und außerdem noch die 7, die 20 und die 36.

      Die Trommel drehte sich, und dann purzelte die nächste Zahlenkugel in den durchsichtigen Becher.

      30! Oder 20? Oder 29? Nein, die 20 war’s, eindeutig, und nun trennten uns bloß noch zwei kleine Glückstreffer vom Durchbruch in die Welt der Millionäre. Vier Richtige hatten wir bereits beisammen, und nun kam auch Papa hoch, angelockt von unserem Freudengeschrei.

      Wenn es klappte, würden Mama und Papa den Gewinn zwar irgendwie anlegen, so fest wie möglich, aber ein bißchen was würde auch für Renate, Volker, Wiebke und mich abfallen, da war ich mir sicher. Das mindeste wäre eine dicke Taschengelderhöhung.

      In dem rotierenden Gerät hoppelten die Kugeln durcheinander, bis es stehenblieb. Dann bewegte es sich in die Gegenrichtung, und als eine von den Kugeln in die Röhre rollte, schrie Renate: »Die 36!«

      Die gezogene Kugel kullerte so rasch durchs Röhrchen, daß man die Zahlenaufschrift nicht gleich erkennen konnte, und dann plumpste die Kugel in den Auffangbehälter.

      37.

      Scheiße! So verflucht knapp daneben! Als ob der liebe Gott das extra gemacht hätte, um uns an der Nase herumzuführen!

      Als letztes kam dann noch die 11.

      Zusatzzahl 2.

      »Außer Spesen nix gewesen«, sagte Papa, obwohl Mama doch immerhin vier Richtige hatte, aber sie meinte, daß man sich da keinen falschen Hoffnungen hingeben dürfe. Nachher kriege man dafür vielleicht nur popelige zwanzig Mark.

      Papa glaubte, daß es noch weniger wäre, wenn die Leute mehr von Statistik verstünden. Dann würden sich bei der nächsten Ziehung Null Komma Null Null D-Mark im Lostopf befinden. Die Wahrscheinlichkeit von sechs Richtigen im Lotto sei geringer als die, in der Wüste Gobi von einem zufällig herunterfallenden Ziegelstein erschlagen zu werden. Eins zu vierzehn Millionen.

      Onkel Rudi hatte mal fünf Richtige gehabt, aber keinen roten Heller gewonnen, weil seine verträumte Zweitgeborene vergessen hatte, den Lottoschein abzugeben.

      Was hätten Mama und Papa wohl mit einer Million Mark angestellt? Sie auf der Bank gelassen vermutlich und nur einen kleinen Teil der Zinsen abgehoben, um sich davon Preßlufthämmer und neue Gardinen zu kaufen. Auf ein größeres Haus, in dem sie noch mehr putzen müßte, hätte Mama genauso gepfiffen wie Papa auf Kreuzfahrten an Bord eines Vergnügungsdampfers.

      Niki Lauda fuhr schon wieder Autorennen. Offensichtlich hatten sich die schweren Brandverletzungen an seiner Birne nicht intelligenzsteigernd auf seinen Grips ausgewirkt.

      »Dieser Irre!« rief Mama. »Statt sich das ’ne Lehre sein zu lassen, daß er dem Tod eben noch von der Schippe gesprungen ist! Dem wein’ ich keine Träne nach, dem Kerl, wenn der nach seinem nächsten Unfall im Leichenschauhaus liegt!«

      Wir hatten oft Streit, aber in diesem Punkt mußte ich Mama recht geben.

      Die FDP, sagte der Wolfert in Deutsch, sei die einzige deutsche Partei, die Wert darauf lege, mit Pünktchen geschrieben zu werden, also »F.D.P.«, und sie werde deshalb von manchen Leuten als »Pünktchen-Partei« bezeichnet.

      Der Wolfert wählte bestimmt CDU, obwohl er als Deutschlehrer allen Grund dazu gehabt hätte, sich vor Helmut Kohl zu grausen. Im neuen Spiegel standen Zitate von Kohl, die ihn nicht gerade als rhetorisch begnadete Geistesleuchte auswiesen.

       Ich glaube, daß auf einem wichtigen Platz der Politik sitzend, Politik tragen heute in unserer jetzigen Gesellschaft mit ihren besonderen Verhältnissen eine der wenigen wirklichen Chancen beinhaltet, politische Gestaltung zu bewirken.

      Und so ein Faselhans war Kanzlerkandidat! Da konnten einem die Unionsparteien ja fast leidtun, wenn sie keine besseren Leute in der Reserve hatten.

      »Jetzt ist nicht die Stunde des Vernebelns und des Beschönigens, jetzt ist die Stunde der Wahrheit«, hatte Kohl im Bundestag gesagt. »Jetzt ist die Stunde des Mutes.« Und Herbert Wehner hatte dazwischengerufen: »Mittag ist jetzt!«

      Am Obststand von Comet mußte Renate ständig alles aufräumen, fegen und wischen und nebenher immer noch freundlich grinsend die Kundschaft bedienen, die sich großenteils aus Vollgasidioten zusammensetzte.

      Einmal gingen Renate und Mama abends in den Kinofilm »Nordsee ist Mordsee«, mit Musik von Udo Lindenberg.

      »Und, wie war’s?«

      »Nicht so besonders«, sagte Renate.

      Wie mir schien, war das gesamte Erwachsenenleben nicht so besonders, wie man sich das als Kind ursprünglich mal vorgestellt hatte.

      Verhaßt waren mir vor allem die Wetternachrichten morgens im Radio: »Nordwest sechs bis sieben, Böen acht.« Den Sprechern hätte ich am liebsten eins in die Fresse gehauen. Und dann Chemie: Was ging mich das Gesetz der ganzzahligen Volumenverhältnisse bei Gasreaktionen an?

      Aus Hildesheim erreichte uns telefonisch die Nachricht, daß Tante Luises Töchterlein Hedda im Garten beim Klettern von einem Pflaumenbaum gefallen und mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gefahren worden sei, wobei sie wirres Zeug geredet habe, immer dasselbe – daß sie leider keine richtigen Schuhe anhabe, sondern nur ihre Hausclogs, und da habe es Tante Luise mit der Angst zu tun gekriegt, aus Sorge um Heddas graue Zellen, aber jetzt sei alles wieder im Lot, auch wenn Hedda sich weder an den Sturz noch an die Fahrt ins Krankenhaus erinnern könne, und es gehe ihr schon besser.

      Schnoif!

      Die Sendungen, die man als politisch interessierter Mensch nicht verpassen durfte, hießen Monitor, Report, Panorama, Kennzeichen D, Pro und Contra, Impulse, Bilanz, Bericht aus Bonn und ZDF-Magazin, und es war ärgerlich, wenn sich welche davon mit Fußball-Live-Übertragungen überschnitten. Die Ergebnisse der Spiele zwischen Bayern München und Köge BK oder zwischen Gladbach und einem international total unbekannten Verein aus Wien mußte man sich dann später vorm Radio zusammenreimen oder auf den neuen Kicker warten.

      Bei der nächsten Elternversammlung war Mama, wie sie stolz verkündete, als Funktionärin in die Elternvertretung gewählt worden, und jetzt durfte sie an Zeugnis- und Klassenkonferenzen teilnehmen. Auch das noch!

      Nach dem Fernsehen als Massenkommunikationsmittel nahmen wir in Englisch die Kreuzzüge durch.

      Um Mitternacht kam Papa plötzlich mit einem Strauß roter Rosen aus dem Keller hoch, mitten in einem Western, und gratulierte Mama zum 22. Hochzeitstag. Na sowas? Und auf einmal produzierten auch Renate und Volker ihre Geschenke – Renate eine Strickjacke und Volker zwei Flachmänner von Berentzen und Heydt. Nur mir hatte mal wieder keiner vorher was gesagt.

      Von Renate erhielten Mama und Papa zusätzlich eine Faltkarte mit der Inschrift: »Herzlichen Glückwunsch zu Eurem 8037. Ehetag seit der kirchlichen Trauung!«

      Dann wurde eine Sektpulle hervorgeholt und aufgewürgt, und Papa, der vor guter Laune fast überschäumte, erzählte eine Schote aus seinem Beamtendasein: Am Morgen habe er seine mit Pferdeschwanz und platt am Schädel anliegendem Haupthaar im Büro aufgekreuzte Sekretärin gefragt, ob sie in einen Windkanal geraten sei, und daraufhin habe diese