Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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der Bohnekamp, der Dralle, Ralle und ich an den vorderen Tischen. Worum es da ging, war für mich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Die Zahlfaktoren der Variablen als Koeffizienten der linearen Gleichung.

      Oma Schlosser war für drei Wochen zur Kur nach Bad Boll gereist. Da hätte ich auch nicht tot überm Zaun hängen wollen. Bad Boll: Das hörte sich so an wie der Name von einem Kaff mit Gesundheitsbrunnen, Kieswegen, Sackbahnhof und grassierender Furzeritis.

      Aus der Vereinskneipe im Hindenburgstadion ertönte ein Schlager, den man nur ein einziges Mal gehört haben mußte, um ihn satt zu haben, aber man bekam ihn immer und immer wieder zu hören, ob man wollte oder nicht.

       Aber bitte mit Sahne!

      Das war ein Hit, der aus allen Ritzen quoll, und ich hätte Udo Jürgens dafür gern das Maul gestopft. Der Schrott von Tony Marshall war ja schon schlimm genug. Das Schlimmere an dem von Udo Jürgens war die sozialkritische Botschaft.

      »Merci, Chérie«, dafür hatte ich mich noch erwärmen können. Oder für »Anuschka« und für dieses eine Lied, in dem er eine Siebzehnjährige angehimmelt hatte.

      Am Morgen ihres 48. Geburtstags redete Mama sich darüber in Rage, daß Wiebke, Volker und ich an diesem Tag zum Unterricht müßten. In ihrer gesamten Schulzeit sei das nicht vorgekommen, daß an ihrem Geburtstag Schule gewesen sei: »Heute ist doch wirklich alles verrückt.«

      In Geschichte waren wir noch längst nicht bis zum Ersten Weltkrieg vorgedrungen, aber ich sah mir in dem Buch schon mal die Fotos von weiter hinten an.

       Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze.

      Das hatten deutsche Soldaten vor der Abreise an die Westfront mit Kreide außen an einen Waggon geschrieben.

      In Chemie mußten wir beobachten, was geschah, als der tatterige Pauker ein Stück Eisenwolle mit dem Bunsenbrenner traktierte, und in der Pause verließen Ralle, der Dralle und ich das Schulgelände und gingen allemann zu Aldi, Maoam kaufen.

       Also lautet ein Beschluß:

       Daß der Mensch was lernen muß.

      Im Aldi trafen wir den Miesowski, der sitzengeblieben war. Der hatte sich einen Träger mit Bierflaschen ausgesucht, um die irgendwo auszusaufen.

      Renate schrieb auf einer Karte aus Paris, daß sie und Olaf mit der Metro zum Place Pigalle gefahren und dann bis zum Moulin Rouge gelaufen seien, an lauter Sex-Shops vorbei.

       Pigalle, Pigalle,

       das ist die große Mausefalle mitten in Paris …

      An diesen Schlager konnte ich mich erinnern und auch daran, daß Mama den Refrain einmal mitgesungen hatte, vorm Fernseher im Wohnzimmer.

      Für Renates Geburtstag hatte Mama bei Comet für zwanzig Mark ein Fondue gekauft.

      Das Wort »Schnoif«, das ich mir ausgedacht hatte, inspirierte Hermann zu dem Vorschlag, in der großen Pause in die Zeitschriftenläden zu latschen und zu fragen, ob der neue Schnoif schon da sei.

      Wir probierten es zuerst bei Ceka: »Haben Sie den neuen Schnoif

      »Schnoif? Kenn’ ich nich’, sowas«, sagte die Verkäuferin, und wir liefen lachend zum Ausgang. Die dachte wohl, ihr Hamster bohnert.

      Dann versuchten wir unser Glück in dem Zeitschriften- und Tabakladen in der Fußgängerzone. Hinterm Tresen stand ein junger Mann von Anfang zwanzig. »Schnoif? Hab ich noch nie gehört. Ist das ’ne Monatszeitschrift?«

      »Ja.«

      »Und wie soll die heißen?«

       »Schnoif.«

      »Schnoif … nee, tut mir leid, führen wir nicht«, sagte der Typ, und als wir wieder draußen waren, konnten wir durchs Schaufenster sehen, daß der sich selber kaputtlachte.

      Das Schlimmste an jedem Donnerstag war die Doppelstunde Physik. Der Quotient aus der Gewichtskraft G und dem Volumen V hieß »Wichte«. Das hörte sich noch blöder an als »Samtgemeinde«, aber da saß man nun und rechnete die »Wichte« von Alkohol, Eisen und Quecksilber aus.

      Der neue Relipauker war eine Speckwalze namens Wörlitzer. Der Kerl ging auf die Sechzig zu, hatte aber Jeans an, und wir sollten uns im Kreis hinsetzen, damit jeder jeden gut sehen konnte. Reiher.

      Ich hockte neben dem Rüßkamp, und als ich dem einmal was zuflüsterte, rief der Wörlitzer: »Na, was hast du denn mit deinem Nachbarn zu bereden? Hmm? Na, sag schon! Isses was Wichtiges? Stell dich doch mal vor die ganze Klasse hin und mach den Mund auf!«

      Vor die Füße hätte ich dem Wörlitzer kotzen können.

      Beim ersten Training nach den Sommerferien schleifte Uli Möller uns im Dauerlauf durchs Waldgestrüpp, bis sogar Didi protestierte. Das sei nicht mehr normal!

      Offenkundig fehlte selbst Didi der Ehrgeiz, der härter gesottene Spieler wie mich irgendwann zu den höchsten Gipfeln des Weltruhms führen mußte. Beim Trainingsspiel siegte meine Mannschaft 16:7, obwohl bei der anderen Uli Möller im Tor gestanden hatte.

      In der Nationalelf versprach ich mir eine große Zukunft als offensiver Außenverteidiger, und ich wäre auch einverstanden gewesen, wenn Helmut Schön mich nach meinen ersten Torerfolgen als Linksaußen nominiert hätte. Oder später als Mittelstürmer. Da hätte ich mit größerer Bravour voranstürmen können als auf dem Posten des linken Verteidigers in der C-Jugend des SV Meppen.

      Mit dem Polo holte Mama Oma Jever und Tante Therese nach Meppen, für einen Tag und eine Nacht. Beim Tee war zu erfahren, daß Kim von ihrem neuen Job als Tippse in London die Nase schon wieder gestrichen vollhabe und daß Norman jetzt in einer Fabrik in Basildon arbeite, dem Londoner Vorort, wo Onkel Bob und Tante Therese ihr Häuschen hatten.

      Und was Norman vor ein paar Wochen widerfahren sei: Der habe ganz friedlich mit seinen Freunden im Pub gesessen, und dann hätten da plötzlich Betrunkene randaliert und nach irgendeinem anderen Kumpel von Norman gesucht, den sie umbringen wollten, wegen irgendwelcher Verfehlungen, und diese Leute hätten eine Massenschlägerei angezettelt, und die mehrfach vergeblich alarmierte Polizei sei erst nach weit über einer Stunde vor Ort erschienen. »Da waren die Radaubrüder natürlich schon längst alle ausgekniffen.« Und nun stünden zwei unschuldige Freunde aus Normans Clique unter Anklage und müßten womöglich jeder einhundert Pfund bezahlen, für den Sachschaden in der Kneipe.

      »Vielleicht sollte Norman sich mal ’n paar anständigere Freunde suchen«, sagte Oma, aber statt das Thema weiter zu vertiefen, erzählte Therese von ihrem Urlaub mit Bob auf Korfu. Ein teurer Spaß sei das gewesen, weil das Pfund so schlecht dastehe.

      Für die Rubrik »Zeit-Lupe« sollte man die Frage beantworten, ob unser Strafvollzug liberal sei. Tja. Da hätten sie wen anderes fragen müssen als mich.

      In Kunst kriegte jeder eine Portion Knete zugeteilt, um daraus ein Relief zu gestalten, das einen Menschen bei der Arbeit zeigen sollte. Die Art der dargestellten Tätigkeit bleibe jedem selbst überlassen, sagte der Lorber, und ich knetete einen Hai bei der Menschenjagd: auf halber Höhe des Reliefs die sich kräuselnden Meereswellen, links darüber der Kopf und ein Arm eines kraulenden Schwimmers und rechts die Rückenflosse des angreifenden Haifischs. Daß der Schwimmer um sein Leben bangte, war an seinem Augenausdruck und an seiner Klappe zu erkennen, die er so weit aufgerissen hatte, daß ich mit dem Spachtel jeden Schneidezahn einzeln modellieren konnte.

      »Damit wirst du keinen Blumentopf gewinnen«, sagte Hermann, der sich für das Modellieren eines hämmernden Schmieds entschieden hatte.

      Aus Österreich schrieb Michael Gerlach mir, daß es da stinklangweilig sei, genau wie zuhause.

       P.S.: Macht die Schule Spaß? Hahahohohihi!

      Anstelle des verletzten Stammtorhüters Wolfgang Kleff