Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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ab dafür. Briefmarke druff und hinein in den Briefkasten. Die sollten mich noch kennenlernen. Das war erst der Anfang!

      In der Zeit wurde Helmut Kohl mit den Worten zitiert: »Wir wollen den Sozialismus bekämpfen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft!« Das erinnerte mich irgendwie an Tschitti-tschitti-bäng-bäng, das fliegende Wunderauto von Karaktakus Pott, und auch an Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt. Und an Goofy als Supergoof. Komische Vorstellung, wie der dicke Helmut Kohl den Sozialismus in der Luft bekämpfte, mit wehender Pelerine …

      »Große Klappe, nix dahinter«, sagte Mama, die von Helmut Kohl nichts hielt, und dann wechselte sie das Thema: Wenn die Sonne weiter so knalle wie jetzt, dann dürften unsere Kohlpflänzchen und Tomaten und Erbsen in Meppen am Ende der Sommerferien wohl verdorrt sein.

      Volker demonstrierte mir mal wieder, wie man Filtertüten kniffen und sie vor dem Einfüllen des Kaffeepulvers in der Halterung der Kaffeemaschine glattstreichen müsse, aber das fand ich albern. Man hätte Volker mal zwei Kaffeetassen vorsetzen und ihn dann raten lassen sollen, welcher Kaffee aus ’ner geknifften Filtertüte gerieselt war und welcher aus ’ner ungeknifften. Um das herauszuschmecken, hätte Volker Geschmacksknospen im Matterhornformat besitzen müssen, und davon konnte ja wohl kaum die Rede sein nach siebzehn Jahren der Beköstigung mit Mahlzeiten auf der Grundlage von Rezepten aus Mamas speckigem Doktor-Oetker-Kochbuch.

      Im Garten spielte Wiebke Federball mit Ute Rautenberg. Falls man dieses traurige Gestümper überhaupt als »Spielen« bezeichnen konnte. Wiebke haute sogar beim Aufschlag oft daneben. »Manno!« rief sie dann jedesmal und kicherte dümmlich, und auch Ute Rautenberg gickste und gackste sich was zusammen. Weiber!

      Für eine Radtour mit Michael und Holger Gerlach lieh mir Olaf sein altes Fahrrad aus. Das hatte zwar nur 26er-Reifen, aber eine Dreigangschaltung, und ich freute mich schon auf die abschüssige Piste hinter Simmern. Um uns in den Haarnadelkurven nicht gegenseitig zu behindern, starteten wir von oben mit einem zeitlichen Abstand von jeweils zwanzig Sekunden. Erst Holger, dann Michael und dann ich. Wer wohl als erster im Talkessel ankommen würde?

      Obwohl ich als Letzter losfuhr, hatte ich gute Chancen, das Rennen zu gewinnen, wegen der Dreigangschaltung, dachte ich, aber als ich im dritten Gang auf Touren gekommen war, driftete das Rad nach rechts, auf den Straßengraben zu, von ganz alleine, und mit einemmal rasselte ich rein und schlug hart auf und ging über den Lenker koppheister. Pardauz!

      Die fette Laubschicht hatte meinen Sturz abgefedert. Arme, Beine, Kopf: Es war noch alles dran. Nur der Rücken tat mir weh.

      »Lebst du noch?« hörte ich von ferne Michael rufen.

      Als ich aufstand, sah ich die Bescherung: Der Vorderreifen war im Arsch. Total verbeult. Und das bei einem geliehenen Rad! Da würde Papa sich mal wieder schön das Maul zerreißen.

      Michael, der mein Mißgeschick mitgekriegt hatte, schob sein eigenes Rad die Straße wieder hoch und gratulierte mir zu meinem Wahnsinnsglück. »Stell dir mal vor, deine Wirbelsäule würde jetzt so aussehen wie diese Radfelge!«

      Am Unfallort blieben wir sitzen, um auf Holger zu warten. Der mußte ja eines Tages begreifen, daß irgendwas faul war, wenn er da unten im Tal vergeblich auf uns wartete. Michael hätte runterfahren und Holger alles erzählen können, aber dann hätten sie ja beide ihre Räder wieder nach oben schieben gemußt.

      Es dauerte fast eine Stunde, bis die Waldesstille von dem Schnaufen unterbrochen wurde, das Holger beim Radhochschieben ausstieß, und dann sahen wir ihn auch. Mit seiner leuchtend orangen Trainingsjacke hob er sich vom Blättergün farblich gut ab.

      »Wetten, daß der sauer ist?« sagte Michael.

      Sauer war gar kein Ausdruck. Wie ein Idiot habe er sich da unten die Beine in den Bauch gestanden, schimpfte Holger, und bei der Rekonstruktion des Unfallhergangs ließ er den Faktor der Altersschwäche des Fahrrads nicht gelten. »Wie kann man nur so blöd sein, sich dermaßen auf die Fresse zu legen!«

      Auf dem Nachhauseweg schulterten Michael und ich das Fahrradwrack, und Holger schob die beiden heilen Räder. Eins links, eins rechts.

      »Dir sollte man wirklich verbieten, überhaupt noch am Straßenverkehr teilzunehmen«, sagte Papa, und Mama redete mir wegen Olafs Eltern ins Gewissen: »Wie stehen wir denn nun da? Wir borgen uns ein Rad von denen aus und geben’s ihnen nach Benutzung dann als Schrotthaufen zurück, mit schönen Grüßen von Familie Schlosser?«

      Ich konnt’s ja nun auch nicht ändern. Mama und Papa hätten mal lieber froh sein sollen, daß ich mir bei meiner Rolle vorwärts nicht das Genick gebrochen hatte, fand ich, aber Mama sabbelte nur davon, daß mir die Reparaturkosten vom Taschengeld abgezogen werden müßten und daß ein Wort der Entschuldigung angebracht sei. Gekämmt und mit gewaschenen Pfoten wurde ich in die Schubertstraße geschickt, wo ich Olafs telefonisch vorgewarnte Eltern für das Malheur persönlich um Verzeihung bitten und ihnen einen Tulpenstrunz aus unserem Garten überreichen sollte.

      Um die Ecke von der Schubertstraße wohnte der Ventilmops, der mir früher immer die Fahrradventile rausgedreht und mich auf dem Pausenhof oder im Schulbus verwämst hatte. Es war nicht mein Herzenswunsch, mit Blumen in der Hand das Ventilmopsrevier zu durchqueren, aber mir blieb keine Wahl.

      Die Türglocke bei Blums machte nicht »Klingeling« wie unsere Klingel in Meppen oder »Ding-dong« wie die in der Theodor-Heuss-Straße, sondern »Bing-bong-bung-böng«, so wie die Glocke von Big Ben.

      Olafs Vater, der mir öffnete, hatte kurze Hosen an und Badeschlappen. »Et hett noch immer jootjejange«, sagte er und überreichte mir im Tausch für den Blumenstrauß eine Tafel Milka-Schokolade, womit die Sache aus der Sicht von Olafs Vater offensichtlich erledigt war, denn er winkte mir nur kurz zum Abschied und machte die Tür wieder zu.

      Donnerlüttchen. Bei einem so gleichmütigen und spendablen Vater aufzuwachsen, und das noch als Einzelkind, so wie Olaf, das hätte mir zugesagt.

      Beim Nachhausegehen ließ ich mir Zeit, damit Wiebke nicht neidisch auf die Reste meiner Schokoladentafel werden konnte.

      Aus dem Heizungskessel hatte Papa anderthalb Eimer Ruß und Asche zu Tage gefördert. Auch der Heizölfilter, sagte Papa, sei total verdreckt, obwohl die Firma Gerstacker vertragsgemäß dazu verpflichtet gewesen wäre, die Anlage zweimal jährlich zu warten. Und der eine Heizkörper im Wohnzimmer sei immer noch undicht, ein geschlagenes Jahr nach der Beanstandung des Schadens. »Da fehlt nicht mehr viel, und das rostet durch.« Aber statt sich hier nützlich zu machen, hätten die Stiesel sich im Vertragszeitraum nur ein einziges Mal blicken lassen und dabei eine Badewannenkachel zerdroschen.

      Noch schlechter als auf alle Handwerker war Papa auf die Amerikaner zu sprechen, die er bei seinen Dienstreisen kennengelernt hatte. In den USA würden nur Großschnauzen nach oben kommen, und am Feierabend söffen sie gemeinsam Cocktails und versicherten sich gegenseitig ihrer Unentbehrlichkeit. »Happy Hour« heiße das bei denen.

      Ein komisches Völkchen, die Amis. Um sich zum zweihundertsten Geburtstag ihrer Nation was zu gönnen, hatten sie die Todesstrafe wieder eingeführt. Mama sagte, daß es keinem Menschen zustehe, darüber zu entscheiden, ob ein anderer Mensch weiterleben dürfe oder nicht. »Einfach zu sagen, der muß jetzt sterben, und dann wird er einen Kopf kürzer gemacht, das ist doch barbarisch!« Ganz egal, was der verbrochen haben möge. »Davon, daß ein Mörder hingerichtet wird, steht niemand von den Toten wieder auf!« Das sollten sich die Amerikaner mal hinter die Ohren schreiben.

      Stars and Stripes. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Amerika, sagte Volker, sei das Land der begrenzten Unmöglichkeiten, aber den Witz hatte ich schon gekannt.

      Amis raus aus USA – Winnetou ist wieder da.

      Volker fraß abends Schnitten mit Butter und Salz. Von alleine wäre ich nie darauf gekommen, gesalzene Butterbrote zu essen, aber die schmeckten gar nicht so schlecht. Mama war damit einverstanden, daß wir uns jeder sein eigenes Abendbrot schmierten, und ich experimentierte ein Weile rum. Geschlagenes Ei mit Zucker, gepfefferte Radieschen und danach drei Scheiben Honigbrot und ein halber Liter Kaba, das war die bekömmlichste Mischung.