Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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an der einen Krümmung des für Rechtshänder hergestellten Kartoffelschälmessers.

      »Freedom ’s just another word for nothin’ left to lose«, schrie eine Rocksängerin aus dem Küchenradio, und Mama sagte, die habe gar nicht mal so unrecht.

      Verarzten mußte ich mich alleine, mit Pflaster und Nagelschere, und nach dem Essen sollte ich den Komposteimer ausleeren gehen. Über der stinkenden Kompostmatsche surrten draußen Insekten aller Waffengattungen herum.

      Die Hitze war schon nicht mehr feierlich. Am besten streckte man irgendwo im Schatten die Glieder aus und rührte sich nicht mehr. Aus Mamas Bücherschrank hatte ich mir zur Siesta die Autobiographie des Schauspielers Anthony Quinn mitgenommen. Darin berichtete der ganz offen, daß er als Achtjähriger ein paar älteren Jungs zugekuckt habe, die in einem Keller um die Wette onaniert hätten. Der Größte habe sich ein Ding aus der Hose geholt, »das wie ein Stück Gartenschlauch aussah«.

       Plötzlich lachte der Große wir irr. Ich bekam es mächtig mit der Angst zu tun. Und dann sah ich, wie etwas aus seinem Pimmel spritzte wie das Gift aus einer Kobra …

      In dem Buch gab es noch mehr solche Stellen. Zum Beispiel die, wo Anthony Quinn sich als Vierzehnjähriger beim Wellenreiten an ein älteres Mädchen drängt und unauffällig deren Brüste und Schenkel berührt und sich dann mit Bier einen andudelt und am Sandstrand einschläft:

       Als ich aufwachte, spürte ich etwas höchst Seltsames. Ich hatte das Gefühl, daß jemand an meinem Penis lutschte. Es war das Mädchen. Sie nahm ihn sehr behutsam in ihren warmen Mund. Ich wagte nicht, mich zu rühren, aus Furcht, den Bann zu brechen und sie in Verlegenheit zu bringen. Ich täuschte tiefen Schlaf vor. Bald war mein Penis steif, und sie schien mit noch größerer Begeisterung dabeizusein. Ich explodierte in ihrem Mund und versuchte, es so ruhig und unauffällig wie möglich zu tun, damit sie immer noch glauben mußte, ich schlafe.

      Danach ging’s wieder normaler weiter. Ob Mama das wohl auch alles gelesen hatte? Oder Papa?

      Ich blätterte noch ein paar andere Bücher durch – »Dshamilija«, »Der wachsame Träumer«, »Der Geist der Mirabelle«, »Asche und Diamant«, »Wenn das Auto Schnupfen hat« –, aber an die Memoiren von Anthony Quinn oder an den »Paten« reichte keins von denen im entferntesten heran.

      Und dann hieß es endlich: Sommerferien! Das hieß allerdings auch: Zeugnisse!

      Meins hätte schlechter ausfallen können. Drei Dreien hatte ich und fünf Zweien, selbst in Erde und Physik, und der einzige Makel, die Vier in Mathe, würde Mama mehr kratzen als mich.

      »Wiedersehen tun wir uns dann in der neunten Klasse«, sagte der Schlüter. »In alter Frische!«

      Schulfrei bis zum 5. August, und dabei war’s noch nicht mal Juli. Und ich war nicht sitzengeblieben. Nie wieder achtes Schuljahr!

      All’s well that ends well.

      Mama fand auch Volkers Zeugnis nur mittelprächtig. Volker graute es dagegen vor Latein, das er nach den Ferien auf dem Maristengymnasium als zweite Fremdsprache wählen mußte, weil sich für den geplanten Französischkurs nicht genügend Schüler angemeldet hatten.

      »Da kommt ja noch was auf uns zu«, sagte Papa. In Jever hätten ihn die Pauker bis zum Gehtnichtmehr mit Latein getriezt. Mamas Einwand, daß Latein das logische Denken schule, verfing bei Papa nicht: »Das logische Denken wird auch durch Mathematik geschult, und damit kann man mehr anfangen als mit ’ner toten Sprache, für die sich bloß noch Bücherwürmer interessieren!«

      Es sei denn, Volker wollte Theologie studieren, aber so sah er nicht aus. Sein Lateinbuch hatte er schon. Was da so drinstehe, verheiße nichts Gutes, sagte er mit düsterer Miene.

      Wiebke hatte nur Zweien und Dreien, außer in Kunsterziehung. Da war sie auf ’ne Vier abgerutscht.

      Vor der Abreise nach Vallendar wollte Wiebke ihren Hamster bei Carola Kowalski in Pflege geben, die selbst alle möglichen Viecher besaß. Volker bettelte darum, die Strecke mit dem Moped fahren zu dürfen, aber das erlaubte Papa nicht. Viel zu gefährlich! »Wenn du soviel Wert auf das Ding legst, mußt du’s eben im Zug mitnehmen und beim Umsteigen von einem Güterwaggon in den anderen verfrachten.« Das sei billiger, als das Moped mit der Bahn per Expreß aufzugeben.

      Damit sich in den kommenden Wochen kein Spaziergänger durch den Anblick von Grashälmchen oder Disteln auf dem Unkrautstreifen vor unserer Hecke beleidigt fühlen konnte, wurden wir alle wieder zum Jäten eingeteilt, bis auf die rekonvaleszente Renate natürlich. Die durfte nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus mit einem von Papas Arbeitskollegen, der da jedes Wochenende runterbretterte, nach Vallendar vorfahren und sich bei Olafs Eltern auf die faule Haut legen, zur Erholung vom Kräfteverschleiß beim Däumchendrehen im Ludmillenstift.

      Das DFB-Pokal-Endspiel schenkte ich mir. HSV gegen Kaiserslautern, besten Dank. Als Unkrautvertilger im Dauereinsatz hätte ich sowieso nur Bruchstücke von der Begegnung sehen können.

      Gerettet wurde der Tag erst durch einen Spielfilm im Spätprogramm, mit Jack Lemmon und Tony Curtis als zwei Musiküssen, die sich in der Unterwelt als unfreiwillige Augenzeugen eines Massakers unbeliebt gemacht hatten und dann in Frauenklamotten Zuflucht in einer weiblichen Big Band suchten. Da lachte sich selbst Papa schief.

      Als ich aufs Klo mußte, rief Volker mir hinterher: »Kannst du mal für mich mitgehen?«

      Hahaha.

      Die Fliegenplage war noch ekelhafter als im Jahr davor. Wenn die Biester wenigstens so schlau gewesen wären, durch die Ritzen wieder zu verschwinden, durch die sie reingekommen waren! Wegen der Gluthitze konnte man nicht alle Fenster Tag und Nacht verrammelt halten, und durch jedes offene Schlupfloch zwängten sich die scheißdämlichen Fliegen ins Haus. Und wenn sie erst einmal drin waren, wollten sie nicht wieder raus, auch wenn man sämtliche Fenster weit aufriß und das Geschmeiß auf die offenstehenden Notausgänge zuzutreiben versuchte. Die emsländischen Fliegen versteckten sich lieber in den Gardinenfalten, und am frühen Morgen tanzten sie einem dann auf der Nase herum, so wie die Maikäfer im Bett von Onkel Fritz.

      In meinem Zimmer hatte ich das Rollo dreiviertel runter, aber trotzdem kam ich mir wie in einer Sauna mit Schwitzpackung vor. Als ich einmal was vom Speicherboden holen wollte, wäre ich fast erstickt, und ich troff vor Schweiß, obwohl ich nur eine Minute da oben verbracht hatte.

      Schwitz, ächz, stöhn, keuch, schnoif.

      Gesucht hatte ich ein altes Kinderbuch, und ich war auch fündig geworden. »Schweinchen-Schlachten, Würstchen-Machen, Quiek-Quiek-Quiek« hieß dieses Elaborat. Ich wollte wissen, ob das wirklich so bestialisch war, wie ich’s in Erinnerung hatte, aber es war sogar noch bestialischer, mit Zeichnungen von heulenden Säuglingen und Lämmchen und einem mit den Haaren an einem Ast hängengebliebenen Mädchen:

       Dort hängt das Kindchen und zappelt noch!

       Ist denn das Kindchen gestorben?

       Nein! Es zappelt ja noch!

      Und dann das Bild von den gierigen alten Weibern, die sich ihre Klöße schmecken lassen, und ein hungriges Kleinkind darf zukucken.

      Palästinensische Terroristen hatten einen französischen Airbus mit mehr als 250 Passagieren nach Uganda entführt. Dem Klang des Namens nach war das ein Land von Kannibalen, irgendwo in dem Urwald, wo Donald Duck und Onkel Dagobert nach den grünen Steinen der Gapas-Gapas gesucht hatten.

      Mama kochte Bohnen ein und schimpfte über die Stoffel von Ceka, die zum zweitenmal hintereinander die verkehrten Fotos von dem Konfirmationsfilm abgezogen hatten. Dafür mußte sie jetzt nicht mehr lange auf den Polo warten. Nur noch zwei Tage, nach Auskunft von Kamps.

      Papa pflanzte Grünkohl. Irgendwann wollte er sich eine Pumpe zulegen und einen Brunnen bohren lassen. Dann müßten wir nicht mehr so viel Geld für die Bewässerung des Gartens ausgeben.

      Mein eigenes Geld hatte mit Müh und Not für den Spiegel und den Kicker