Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Der nächste Gegner war allerdings der Abstiegskandidat Kickers Offenbach. Der mußte zu packen sein.

      An die holländische Firma ließ Mama einen ellenlangen Schrieb los, in dem sie auch auf ihre familiäre Situation und ihren Werdegang als Hausfrau einging.

       Obwohl meine praktischen Fertigkeiten auf musikalischem Gebiet (Klavier, Geige, Gitarre) eher bescheiden sind, habe ich doch stets großes Interesse an allen Zweigen der Musik gehabt …

      In meinem ganzen Leben hatte ich Mama noch keine Sekunde lang musizieren gehört, weder auf dem Klavier noch auf der Geige noch auf der Gitarre, und von Mamas großem Interesse an allen Zweigen der Musik hatte ich auch noch nicht viel gemerkt. Sonst wäre ja jeden Abend ein Streit ausgebrochen zwischen Mama, die sich Opern oder Sinfoniekonzerte im Radio anhören wollte, und dem Rest der Familie, der aufs Fernsehen scharf war. Und was sollte diese Firma mit der Information über Mamas bescheidene Fertigkeiten als Hausmusikantin anfangen? Das konnte da doch unmöglich irgendwen interessieren.

      An Mamas Stelle hätte ich die Sentenzen über unser Kleinfamilienleben weggelassen aus dem Bewerbungsschreiben.

      In der neuesten Spiegel-Titelgeschichte ging es um »Schul-Angst«, an der angeblich Tausende von Kindern litten.

       Nervös oder aggressiv, verzweifelt bis zum Selbstmord – Schulkinder. Woran liegt es, daß trotz aller Bildungsbemühungen die Klassenzimmer häufig Krankenzimmern gleichen?

      Der Unterricht im Meppener Kreisgymnasium mochte ja der langweiligste der Welt sein, aber von einem Selbstmord hatte ich noch nichts läuten gehört.

      Auf dem Konfirmationsfoto war ich der einzige Junge mit Schlips. Alle anderen hatten ’ne Fliege um.

      Ich brachte meinen ersten Film zum Entwickeln, und es lief mir heiß und kalt über den Rücken, als ich bei Ceka erfuhr, was der kosten sollte: sieben Mark! Ein so teures Hobby konnte ich mir auch als konfirmierter Großkapitalist nicht leisten. Allenfalls die Zeitschrift Sport Niedersachsen. Die wollte ich mir jetzt jede Woche kaufen, um mich nicht allein vom Kicker beeinflussen zu lassen bei meiner Meinungsbildung.

      Außer Bierbuden und Kinderkarussells hatte das Schützenfest in Meppen nicht viel zu bieten. Ein einziges Mal ging ich da hin und dann nie wieder.

      In Franz wurde der Holzmüller als Fälscher enttarnt: Der hatte ganze Passagen aus Aufsätzen seines älteren Bruders Wort für Wort von Spickzetteln in eine Klassenarbeit übertragen. Als entlarvter Missetäter führte der Holzmüller auf dem Pausenhof das große Wort, wobei er sich von der halben Klasse umringen ließ.

      »Den schmeißen sie von der Schule«, sagte der Bohnekamp, aber irgendwie kriegte der Holzmüller trotzdem noch die Kurve.

      Dann ging es in einer Physikarbeit um die Wurst.

       Welche Kraft entwickelt ein Auto, das bei Vollgas eine Leistung von 35 PS hat, wenn es im ersten Gang mit 5 m/s fährt? Wie groß ist die Kraft im vierten Gang bei gleicher Drehzahl und Leistung des Motors, wenn das Auto die Geschwindigkeit 108 km/h hat? Rechne 35 PS in kW um!

      Das gelang mir nicht. Weg damit. Nächste Aufgabe:

       Mit welcher Geschwindigkeit kann ein 20 kW-Motor ein Werkstück von 0,5 t Masse hochziehen?

      Ein Werkstück? Was sollte das sein? Ein anderes Wort für Dingsbums? Die nächste Aufgabe war auch nicht leichter:

       Welche Leistung liefert eine Freistrahlturbine, die bei einem Gefälle von 195 m in 1 s von 9,4 m3 Wasser durchlaufen wird, wenn man von Verlusten absieht?

      Da hätten sie einen anderen fragen müssen als mich.

      In Mathe wurden elektronische Taschenrechner ausgegeben. Wenn man die Zahl 7353 eintippte und den Taschenrechner umdrehte, dann stand da: ESEL.

      Hermann hatte inzwischen den »Arthur Gordon Pym« gelesen und war hin und weg, besonders von der Menschenfresserei auf dem Floß. Wenn ich ihm noch mehr Romane dieser Güteklasse empfehlen könne, sagte er, wäre er mir dankbar.

      Im Flur führte Mama ein längeres Telefongespräch mit Renate. Wir hatten ja vor, in den Pfingstferien nach Vallendar zu fahren, und Renate wollte dann bei Olafs Eltern in der Schubertstraße pennen. Mama sagte, das gehe nicht an. Sie habe da zwar keinerlei moralische Bedenken, aber Renate sei ja immer noch ein Mitglied der Familie Schlosser und nicht der Familie Blum. »Für dich und deinen Olaf ist das viel zu selbstverständlich, daß du immer bei dessen Eltern übernachtest!« Darüber werde sie sich auch mit Olafs Mutter noch unterhalten. »Du benimmst dich, als ob du da schon zur Familie gehörst, und das geht nun mal nicht! Und außerdem ist Pfingsten, und da kannst ja wohl mal zuhause sein! Deinen Olaf hast du noch lange genug! Wir existieren schließlich auch noch! Du mußt doch auch mal an uns denken und nicht bloß immer und immer an deinen Olaf!« Abendliche Besuche würden vollkommen ausreichen. »Und dann wirst du von der Gartenarbeit ohnehin so kaputt sein, daß du kaum irgendwelche Lust hast, dich da riesig zu amüsieren. Dann solltest du lieber früh zu Bett gehen … nein … nein … also wirklich, du bist nur auf dein Vergnügen aus! Du kannst nicht einfach entscheiden, was gemacht wird, und alle anderen werden gar nicht gefragt! Olafs Eltern ist das sicher auch schon längst nicht mehr recht, was sich da bei euch eingebürgert hat!«

      So ging es hin und her. Als ich mich daran sattgehört hatte, ging ich ins Wohnzimmer, um mir den Vampirfilm anzusehen, der um viertel nach neun im ZDF anfing: »Blut für Dracula«, wieder mit Christopher Lee.

      Am ersten Pfingstferientag sollte gleich nach dem Mittagessen gestartet werden, aber Papa würgte viel länger als geplant an den Dachgepäckträgerschrauben herum, obwohl das alles eigentlich nicht so schwierig sein konnte wie das Kopplungsmanöver von Apollo und Sojus.

      Weil Renate nicht mitfuhr, stand diesmal auch mir als Drittältestem ein Fensterplatz zu, und Wiebke mußte in der Mitte sitzen. Als sie ihren ersten Furz in den Peugeot entließ, fühlte ich mich sofort zurückversetzt in die Tage der Spanienreise.

      Fünf Stunden Fahrt.

      Unterwegs tankten wir bei Deutschlands Autopartner Nr. 1, Aral.

      Auf dem Mallendarer Berg inspizierte Papa unser Haus vom Keller bis zum Dach. In der Waschküche war ein Gullirost zerbrochen, und das Ausgußbecken war aus der Verankerung gerissen. Das wurde nur noch durch das Abflußrohr in seiner Lage gehalten. Papa stieß Flüche aus, und Mama rief: »Nicht doch vor den Kindern, Richard!«

      Aus dem Radio war zu erfahren, daß Offenbach noch in der 81. Minute mit 1:0 in Führung gelegen hatte, aber dann war Allan Simonsen nach vorn geprescht, zum Ausgleich, und als der Schiri Ohmsen aus Hamburg abgepfiffen hatte, war Borussia Mönchengladbach zum vierten Mal Deutscher Meister.

      »Nun reg dich mal wieder ab«, sagte Mama, als ich freudig erregt die Treppe hinunterhüpfte. »Sieh dich mal lieber nach Wiebkes Zahnbürste um!«

      Die war irgendwo verschüttgegangen.

      Ratzen mußten wir auf wabbeligen Luftmatratzen, und am Morgen gab’s nur Schwarzbrot mit SB-Magarine als Grundlage für die Erdbeermarmelade. Aus dem Marmeladenglas hatte Mama vorher mit dem Messer ein Fitzelchen Schimmel entfernt, und nach dem Frühstück durfte ich Michael Gerlach besuchen gehen.

      Finanziell sei die Konfirmation unergiebig gewesen, sagte Michael. Auch für seinen Bruder Holger sei nicht viel herausgesprungen. Ins Wambachtal wollten sie alle beide nicht gehen. Das hätten sie satt.

      In der Küche spielten wir eine Stunde lang zu dritt Mensch-ärgere-Dich-nicht, bis Frau Gerlach den Tisch brauchte, zum Abstellen von Töpfen und Schüsseln beim Essenkochen. Der Versuch, das Spielbrett mit allen Figuren ins Wohnzimmer zu tragen, scheiterte kläglich: Beim Transport fielen sie allesamt runter, und Michael sagte, ihm sei die Lust an diesem Spiel sowieso schon vergangen.

      Olaf holte Renate vom Busbahnhof ab und brachte auch zwei Gartenliegen mit, von seinen Eltern, als Leihgabe für uns, und dann wurden auf der Terrasse Zukunftspläne durchgesprochen,