aus der Stadtbücherei zu Rate. »Freude am Schach« von Gerhard Henschel: Da wurde einem geraten, bei der Eröffnung zuerst die Mittelbauern zu ziehen, um den Offizieren den Weg freizumachen. Hast du die Mitte, dann hast du die Zukunft. Schäfermatt, Französische Partie und Sizilianische Verteidigung. Vielleicht schlummerte in mir ja wirklich ein Schachgenie à la Alexander Aljechin oder Bobby Fischer, der schon als Fünfzehnjähriger Schachmeister der Vereinigten Staaten geworden war, dachte ich, aber als ich Volker noch einmal herausforderte, klaute der mir gleich im neunten Zug meine Dame und setzte mich im dreizehnten matt.
Ausgeliehen hätte ich mir gern auch das eine oder andere Buch über Aktmalerei und Aktphotographie, aber damit traute ich mich zu der fetten Schreckschraube am Tresen der Stadtbücherei nicht hin.
Vor der Konfirmation schickte Mama mich zum Friseur: Fassonschnitt, zehn Mark, und das Wechselgeld sollte ich wiederbringen.
Im Friseursalon lag ein altes Micky-Maus-Heft zwischen den Illustrierten. Da klebten Tick, Trick und Track Onkel Donald einen langen künstlichen Bart an, während Donald ein Nickerchen machte, irgendwo im sonnigen Süden, und als er wach wurde, behaupteten sie, daß er nach dem Stich einer Tsetsefliege 24 Jahre lang geschlafen habe. Sich selbst hatten sie als Erwachsene verkleidet. »Damit du im Bilde bist: Track ist inzwischen Arzt, Trick Anwalt, und ich hab’ die Fachhochschule für Frisöre besucht! Mit Erfolg!« Donald wollte das nicht glauben. Seiner Erfahrung nach konnte das ja auch kaum angehen, denn von den Entenhausenern wurde nie einer alt. Vielleicht hätte mal jemand nachzählen sollen, wieviel Zeit Donald Duck, in allen Geschichten zusammengerechnet, mit seinen Neffen schon verbracht hatte. Bestimmt ’n paar Jahrzehnte. Das einzige Indiz dafür, daß auch Entenhausener alterten, waren die Rückblenden in Onkel Dagoberts Goldgräberjugend im Klondyke.
Jedenfalls verlangte Donald Beweise: »In so einer Zeitspanne muß sich die Welt doch stark verändert haben. Das will ich sehen. Mit eigenen Augen!« Die Neffen reagierten ratlos: »Was nun, Leute?« – »Er erwartet von uns Erscheinungen aus dem Jahr 2000!« Und sie schwindelten ihm was vor: »Also … äh, die Häuser sind heut aus Gummi, damit nichts passiert. Es schwirren so viele Raketen in der Luft rum und Sputniks und so.« Damit hatten sie Donalds Neugierde geweckt: »Los, wir fahren in die nächste Stadt! Ich will die Wunder des Jahres 2000 sehen.« Und gerade hier, wo’s spannend wurde, kam ich dran.
Wer hatte bloß diese Scheißfriseurbesuche erfunden? Und welcher innere Zwang spornte Frauen dazu an, sich die Haare so affig hochtoupieren zu lassen wie die Gewitterhexe, die soeben den Laden verließ? Und wie wohl die Frisuren der Weiber im Jahr 2000 erst aussehen würden?
Bis ein passender Anzug gefunden war, mußte ich mich in mehr als ein Dutzend Beinkleider quälen, und dann folgte noch die Schuhsuche. Mir langte schon der Gestank in den Schuhgeschäften. Da wäre ich am liebsten jedesmal gleich rückwärts wieder rausmarschiert, aber Mama setzte ihren Willen durch und nötigte mir ein schwarzes Paar Halbschuhe auf.
An der Kasse zückte sie einen Fünfzigmarkschein und kriegte nur sehr wenig Wechselgeld zurück.
War denn Jesus selbst nicht barfuß rumgelaufen in Jerusalem? Oder mit billigen Jesuslatschen?
In der Gustav-Adolf-Kirche mußten wir das würdevolle Schreiten zum Altar und das Hinknien, das Weintrinken und das Oblatenverspeisen üben, und zuhause trug Papa mir auf, die Grashalme an der Rasenkante rings um die Terrasse mit der Gartenschere zu stutzen.
Wenn ich jemals irgendwelche Neffen oder Nichten haben sollte, dann würde ich bei denen zuhause niemals mit der Lupe im Garten herumkriechen.
Abends holte Mama Renate vom Bahnhof ab. Sie sei heute auf den Tag genau drei Jahre mit Olaf zusammen, sagte Renate. Er hatte nicht mitkommen können, wegen seiner Verpflichtungen bei der Bundeswehr. Nach der Zeit beim Barras werde er wahrscheinlich Jura studieren, am besten natürlich in Bielefeld.
In seiner Eigenschaft als Juso hätte Olaf auch in Bonn Karriere machen können. Im Kabinett von Helmut Schmidt wurden ja immer wieder einmal Plätze frei für ehrgeizige Neulinge. Als neutraler Beobachter der politischen Szenerie war ich allerdings nicht erpicht auf Umbesetzungen im Kabinett, nachdem ich mir gerade alles so schön gemerkt hatte: Genscher Außen, Maihofer Innen, Friderichs Wirtschaft, Apel Finanzen, Vogel Justiz, Leber Verteidigung, Matthöfer Forschung und Technologie, Arendt Arbeit, Franke Innderdeutsche Beziehungen, Ertl Landwirtschaft, Ravens Raumordnung, Rohde Bildung, Bahr Entwicklungshilfe, Gscheidle Verkehr und Focke Jugend, Familie und Gesundheit.
»Und hast du nun endlich dein Zimmer gestaubsaugt?«
»Mach ich gleich …«
Den Staubsauger die Treppe raufzuschleppen, das war ein Akt. Und Wiebkes Zimmer sah viel übler aus als meins.
»Schluß da oben mit dem Hickhack!« rief Mama. »Ich komm gleich hoch und werd euch helfen!«
Bei der Zimmerpatrouille riß sie meinen Kleiderschrank auf. »Außen hui und innen pfui!«
Als ob sich die Verwandten dafür interessiert hätten, wie gründlich mein Strumpfkorb aufgeräumt war und ob da irgendwelche Halmafiguren drin rumflogen.
Abends klebte Mama am Eßtisch wieder Fotos aus Afrika ein. Papa setzte sich dazu und wollte den Sherry probieren, den Mama eigentlich für morgen und übermorgen gekauft hatte, und zu Renate, die im Wohnzimmer am Stricken war, rief Papa rüber: »Los, komm her, dann kriegst du auch was zu saufen!«
There was something in the air that night
The stars were bright, Fernando …
Von ihm aus, sagte Papa, könnten ihm alle, die uns als Gäste ins Haus stünden, den Buckel runterrutschen. Auch Onkel Rudi. Der erst recht! Daß der Jurist geworden sei, das sehe ihm ähnlich: Maulaffen feilhalten und anderen Leuten in ihre Arbeit reinquatschen, das sei das tägliche Brot der Juristen. Wenn sich alle Menschen an die Zehn Gebote hielten, wären die Juristen arbeitslos.
Noch weniger hielt Papa von Politologen, aber als er diesbezüglich in Fahrt kam, war der Sherry alle. Das sei egal, sagte Papa. Dafür sei es heute abend hier im trauten Verein der Familie gemütlicher gewesen als morgen abend mit der ganzen buckligen Verwandtschaft. Und dann ging er in den Keller. Und dann kam er noch einmal hoch und brüllte: »Martin! Dein Fahrrad steht noch immer draußen!«
Am Samstag trudelten die ersten Konfirmationsgäste ein, während Deutschland gegen Spanien spielte. Nach einem Fallrückziehertor von Uli Hoeneß hupte draußen Tante Hilde, die Tante Dagmar als Beiladung aus Hannover nach Meppen befördert hatte. Die stellten sich alle so an, als ob sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hätten, und nachdem Klaus Toppmöller kurz vor der Halbzeit das 2:0 erzielt hatte, machte Mama den Fernseher aus.
Renate kochte Tee und Kaffee, und dann ging es Schlag auf Schlag mit den Besüchern: Oma und Opa Jever, Oma Schlosser, Tante Jutta und Onkel Dietrich. Da saß ich gerade auf dem Klo. »Und wo steckt der Konfirmand?« rief Onkel Dietrich.
Tante Gertrud und Onkel Edgar konnten erst am Sonntag kommen, weil sie abends noch in Bielefeld zum Kirchenchor mußten.
Im Flur nahm Onkel Dietrich mich in den Schwitzkasten: »Na, du Räuber? Immer noch der alte Frechdachs?«
Mama und Renate hatten auf der Terrasse die Kaffeetafel gedeckt. »Und wie war das nun mit dem Erdbeben?« fragte Tante Jutta, und Tante Dagmar sagte, daß in Venedig die Wände gewackelt hätten. »Telefonverbindungen kaputt, zwei Stunden Strom weg und andere Scherze«, aber mehr habe sie davon nicht mitbekommen. Viel kniffliger sei das Einkaufen in Italien gewesen. Wenn man da mit einem großen Schein bezahle, würden einem statt Wechselgeld Bonbons, Briefmarken oder Zahnstocher hingelegt. Es gebe sogar Hotels, die ihr eigenes Hausgeld druckten. Und am letzten Tag sei sie beim Aussteigen aus einem Motorboot in den Gardasee geplumpst, mit Klamotten an. »Und das war kalt, das kann ich euch wohl sagen!«
»Und schwimmst du auch nach Montreal?« fragte Onkel Dietrich. Bei den Olympischen Spielen in München hatte Tante Dagmar als Hosteß gejobbt.
»Würde ich zwar gerne, darf ich aber nicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich