Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Ich erstattete Bericht.

      »Also bitte«, sagte Tante Dagmar, und dann ging sie ins Haus, ihre Stola holen. Ohne diesen Fummel um die Schultern war es ihr auf der Terrasse zu kalt.

      Tante Gisela fehlte, weil sie in Göttingen dem rekonvaleszenten Gustav beistehen mußte. Dem habe der Arzt für den Rest des Sommers das Sonnenbaden verboten, sagte Oma Jever.

      »Und hat Tante Gisela nicht sogar auf ihren Urlaub verzichten müssen deswegen?« fragte Renate.

      »Nee, die reist erst im Juni nach Abano Terme«, sagte Tante Dagmar, die immer über alles am genauesten Bescheid wußte. »Morgens Fango, abends Tango.«

      Wiebke führte dem Volk ihren Hamster vor, der aber lieber pofen wollte.

      Abends hatten alle einen in der Kiste. Renate war erkältet und heiser. Ihr eines Auge tränte, und sie düngte ihre Nasenlöcher mit Rhinospray. Die Vorlesungen, sagte sie, seien überbelegt, und auch sonst liege vieles im argen. Ein Dozent sei neulich nicht erschienen, wegen Besoffenheit, und Oma Schlosser erzählte, daß Tante Doro am Knie operiert werden müsse.

      Sieben Gäste übernachteten bei uns im Haus.

      Nach dem Frühstück knotete mir Papa einen seiner Schlipse um den Hals, und ich sah aus wie ein Streber.

      Tante Gertrud und Onkel Edgar waren noch immer nicht da, als wir zur Gustav-Adolf-Kirche aufbrachen. Im Peugeot rieselte Papas Zigarettenasche auf meine Hose, und Mama reichte mir ein angelülltes Tempotaschentuch nach vorn, mit dem ich die Bescherung wieder wegtupfen sollte.

      »Mensch, doch nicht so, du Unglückswurm! Was machst du denn! Du schmierst ja alles erst so richtig breit!«

      Vor dem Portal mußten alle Konfirmanden warten, bis die Gemeinde sich in der Kirche versammelt hatte, und dann in Zweiergruppen einmarschieren. Ich ging neben Stefan Rüßkamp in die Kirche hinein, vom Orgelspiel umtost, und ich war dem lieben Gott dankbar, als ich vorn einen Sitzplatz gefunden hatte, in der zweiten Reihe.

      Dem Vater aller Güte, dem Gott, der alle Wunder tut und allen Jammer stillt, sei Ehre, sang der Chor. Dann kam eine Lesung aus dem Evangelium, dann wurde wieder gesungen, »von guten Mächten treu und still umgeben«, dann kam das Glaubensbekenntnis, und dann mußte man noch einmal das Gesangbuch aufschlagen. Zwischendurch gingen irgendwelche Mädchen mit Klingelbeuteln rum, und man mußte Geld reinschmeißen, als Dankopfer für die »Patengemeinde Marienberg«, von der kein Mensch wußte, was es mit der auf sich hatte.

       Hier sind die starken Kräfte, die unerschöpfte Macht,

       das weisen die Geschäfte, die seine Hand gemacht …

      Das Gebet, predigte Pastor Böker, sei das Atemholen der Seele. Als Christen seien wir mit der Taufe in Jesum eingepflanzt, und wir dürften vom Kelch des Nachtmahls trinken. Gottes Herz sei dazu bereit, uns zu empfangen, auch wenn wir irregegangen seien wie Schafe ohne Hirten. Wir sollten unsere Augen aufheben zu der großen, seligen Gnadengemeinschaft mit Gott, der uns aus dem Bösen endlich gar hinausführen werde, und je mehr unser Gebet eine zwingende Forderung werde, desto eher werde Gott unsere Bitten erfüllen.

      Ob das auch für Bittgebete um das Wohlergehen von Borussia Mönchengladbach galt?

      Auf meinem linken Knie hatte sich eine Fliege niedergelassen. Ich scheuchte sie weg, aber sie kam sofort wieder angeflogen. Wer wußte schon, auf welchem Kackhaufen die vorher gehockt hatte? Ich scheuchte das Mistvieh wieder weg, und dann setzte es sich auf Stefan Rüßkamps Kragen in der Reihe vor mir.

      »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, sagte Pastor Böker. In der Obhut Gottes seien wir geborgen. Halt und Hoffnung: Siehe, habe Gott der Herr gesagt, er sei bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Wer den Sohn liebhabe, zu dem komme der Vater, und wer nach Christo sich sehne, den werde der Vater trösten. Es verzeihe uns der Herr, daß wir uns unterfingen, mit Ihm zu reden, dieweil wir ja nur Staub und Asche seien, und noch mehr verzeihe Er uns, daß wir als Kinder des Allerhöchsten nicht besser zu ihm redeten. »Herr, lehre uns beten, hilf uns glauben, laß uns alles überwinden um Jesu Christi willen! Amen.«

      Nach Christo sehnte ich mich weniger als nach dem Ende der ganzen Veranstaltung, und so wurde ich eingesegnet, und ich erhielt meine Konfirmationsurkunde.

       Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

      Nach dieser Zeremonie mußten wir singen.

       Ich bin getauft auf deinen Namen,

       Gott Vater, Sohn und Heilger Geist,

       ich bin gezählt zu deinem Samen,

       zum Volk, das dir geheiligt heißt …

      Erst bei der dritten Strophe sang auch die Gemeinde mit, und dann kam das Abendmahl. Den Becher wischte Pastor Böker jedesmal mit einem Lappen ab. Das zweite heilige Sakrament nach der Taufe.

      »Lasset uns beten«, hieß es dann.

      Gemeindelied, Fürbittgebet, Vaterunser, Segensspruch, Kyrieleison, Orgelsolo und Schluß: Nun war ich durch, aber ich mußte noch fotografiert werden, gemeinsam mit allen Konfirmanden vor der Kirche. Die Mädchen setzten sich vorn auf Stühle, dahinter kam eine Reihe Jungs, und in der dritten Reihe mußten sich die restlichen Jungens auf Stühle stellen und grinsen.

      Daß inzwischen auch die Bielefelder eingetroffen waren, Tante Gertrud und Onkel Edgar plus Bodo, kriegte ich erst zuhause mit, als Onkel Edgar mir im Flur herzhaft die Hand schüttelte.

      Auch die Lohmanns ließen sich kurz blicken. Deren eine Tochter war im selben Durchgang konfirmiert worden, so wie drei andere Typen aus meiner Klasse.

      Renates Auge tränte immer noch. »Arme Renate, hat vor Rührung geweint!« rief Onkel Edgar.

      Aber ich war der Held des Tages, und ich kam mir vor wie Konsul Bollerstedt.

      Von Tante Dagmar kriegte ich eine Armbanduhr, von Oma und Opa Jever eine Schreibmaschine, von Onkel Dietrich einen AGFAMATIC 2008 pocket Sensor mit Ledertasche, Handgelenkschlaufe, Repitomatic-Funktion, acht Philips-topflash-Blitzwürfeln zum Aufstecken und einem Farbfilm mit zwanzig Bildern, von Tante Gisela per Brief zwanzig Mark, von Mama und Papa ein Zeit-Abonnement, von Tante Gertrud zwei Bildbände über das Dritte Reich und eine dazugehörende Schallplatte mit Reden von Hitler und Goebbels und außerdem eine Unterschriftenmappe, 500 Blatt Papier, ein Tangramspiel und einen Wimpel von Arminia Bielefeld und von Oma Schlosser ein Buch: »Womit wir leben können. Das Wichtigste aus der Bibel in der Sprache unserer Zeit. Für jeden Tag des Jahres ausgewählt und neu übersetzt von Jörg Zink«. Und dazu noch ein Fremdwörterlexikon und einen Zehnmarkschein von Tante Lena aus Bochum. Begegnet war ich der noch nie. Der eckigen Handschrift konnte man ansehen, daß es die von einer uralten Frau war.

       Das Altsein ist oft recht schwer und will auch gelernt sein. Nun muß ich aufhören, denn die rechte Hand streikt …

      Was ich an Bargeld eingesackt hatte, belief sich auf müde dreißig Mark.

      Als Mama und Renate die Bratenplatten und Soßenschüsseln ins Wohnzimmer geschleppt hatten, stand Papa von seinem Stuhl auf, stellte sich dahinter, wischte sich den Mund an einer Stoffserviette ab und hielt dann eine Ansprache, der er die Bemerkung voranschickte, daß er vom lieben Gott nicht als Redner geboren worden sei. Dabei hielt Papa sich mit beiden Händen an seiner Stuhllehne fest.

      Die Konfirmation, sagte er, sei ein Schritt zum Erwachsenwerden. »Zum Erwachsenwerden, wohlgemerkt, nicht zum Erwachsensein!« Denn das Erwachsensein, das sei noch einmal etwas anderes als das Erwachsenwerden.

      Daß ich noch nicht erwachsen war, wußte ich selbst. Das hätte Papa mir nicht unbedingt noch einmal aufs Brot schmieren müssen.

      Zum Nachtisch gab’s Birne Helene, und dann schoß ich viele Fotos. Opa Jever auf der Terrassenmauer, Oma Jever in der Küche, Tante Dagmar im Flur, Onkel Dietrich beim Naseputzen, Tante Gertrud vorm