Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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      Beim Schaukeln in der Hängematte fielen mir glitzernde Fäden von Spinnengeweben zwischen den Ästen auf. Man konnte die Augen beim Schaukeln aber auch zumachen und an gar nichts denken oder schläfrig in den Himmel hinaufschauen, bis man von Papa angepupt wurde: »Nimm dir jetzt mal die Terrassenbeete vor, du Faulpelz!«

      Das einzige Familienmitglied, das man niemals in der Hängematte liegen sah, war Papa.

      Als Renate zu Besuch kam, sah Mama sich deren Ausgabenbuch durch und zog daraus den Schluß, daß Renate zu verschwenderisch gelebt habe: Rotwein? Und satte achtzehn Märker für eine Vergnügungsfahrt nach Koblenz und zurück? »Und machst du dir da etwa jeden Tag ’n Festessen in Bielefeld?«

      Renate hielt dagegen: Sie habe sich bislang nur ein einziges Mal ein Schnitzel geleistet und sonst überhaupt kein Fleisch, und außer der einen Flasche Rotwein bei Olafs erstem Besuch habe sie in der ganzen langen Zeit keine weitere Weinpulle mehr gekauft, aber da kriegte Mama ’n Hals: »Was die Telefongespräche mit deinem geliebten Olaf kosten, das geht selbstverständlich von deinem Taschengeld ab! Das will ich doch mal festgehalten haben! Du kannst hier nicht einfach ’n Vermögen vertelefonieren!«

      »Tu ich doch auch gar nicht«, greinte Renate, und ich suchte das Weite.

      Neu oder nicht älter als zwei Jahre sollte der Zweitwagen sein, den Mama und Papa aussuchen wollten. Dafür fuhren sie bis Rheine.

      Renate, Volker und ich mußten währenddessen in einer Ecke des Gartens Steine ausgraben. Wiebke hatte sich mal wieder zu einer Kindergeburtstagsfeier abgemeldet.

      Die reinste Schutthalde hatte man da vor sich. So als ob an dieser Stelle extra mal ’ne Fuhre Kiesel hingekippt worden wäre, irgendwann im Pleistozän, allein für uns, zur Samstagsvormittagsbeschäftigung. In der Erde ringelten sich Würmer, Asseln und Käfer, ein Getier immer noch abstoßender als das andere. Die konnten einem leidtun. Was ein Scheißleben, als winziges Krabbelvieh in Meppen durchs Erdreich zu krauchen und da Milbengebeine oder Mäusekot zu fressen.

      »Bloß gut, daß dieser olle Zankapfel jetzt weg ist«, sagte Renate, womit sie die Ruine des VW-Käfers meinte.

      Papa ging in den Keller, um nach dem Rasensprenger zu suchen, und Mama sagte, daß die Sache mit dem Zweitwagen noch nicht entschieden sei. »Das will alles gut überlegt sein, denn so’n Auto kost’ ja auch ’n Haufen Geld.«

      Ein Schützenfest war das Rückspiel gegen Bayer Uerdingen: Vier Minuten vor Schluß stand es 6:0, und den Ehrentreffer in der 87. Minute konnten sich die Uerdinger in Geschenkpapier einwickeln lassen.

      Abends zofften sich Mama und Renate wieder übers Geld. Renate sollte weiter Buch führen und die Taschengeldausgaben rot markieren und nach Ablauf eines Monats alles zusammenzählen. Mama wollte dann mit ihr die einzelnen Posten überprüfen, ob die Ausgaben nötig gewesen seien oder nicht, aber Renate hatte keine Lust, Kassenbons zu horten und die dann mit Mama einzeln durchzudiskutieren.

      Noch nachts um halb zwei war’s brühwarm. Damit das Fenster offenblieb, hatte ich einen meiner Pullunder in den Rahmen geklemmt. Leider wurde irgendwo in der Nachbarschaft ’ne große Party gefeiert. Ein Prosit der Gemütlichkeit.

       Es wird Rabatz gemacht

       Solange bis die ganze Bude kracht …

      Und diese Kacke hatte ich mal gut gefunden, als Zehnjähriger oder wann. Um wieder einpennen zu können, mußte ich das Fenster verrammeln. Lieber an ’nem Hitzschlag sterben als an Verblödung.

      Am Muttertag buk Renate morgens Brötchen, und im Küchenradio lief der neueste bekloppte Schlagerdünnpfiff.

       Oh, Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen,

       wie der gefährlich in den Knien federn kann …

      Renate begriff nicht, was ich daran auszusetzen hatte. »Du kommst hier runter, und das erste, was du tust, ist meckern! Mecker, mecker, mecker, so geht das den ganzen Tag bei dir! Mach dich doch mal nützlich, du oller Meckerpott! Hilf doch mal Wiebke beim Tischdecken, statt mich hier mit deiner Stinklaune zu ärgern!«

      Die Terroristin Ulrike Meinhof hatte sich in ihrer Gefängniszelle erhängt. Das war die Nachricht des Tages. »Ich glaube ja, die Frau hat eingesehen, daß sie sich da in irgendwas verrannt hat«, sagte Mama. »Sonst bringt man sich doch nicht um. Und schon gar nicht am Muttertag.«

      Nach dem Mittagessen – Lasagne mit Hühnerragout – reiste Renate ab. Ihr Klapprad hatte sie schon zwei Tage davor mit der Bahn aufgegeben.

      Papa brachte Renate zum Bahnhof. Zum Winkewinkemachen war’s mir zu heiß, und ich fand auch, daß Renate übertrieben hatte mit ihrer Gardinenpredigt über meine Meckerei, denn »Schmidtchen Schleicher« war einfach Scheiße, und was anderes hatte ich mit meiner Kritik ja gar nicht zum Ausdruck bringen wollen.

      »Nun muß sich Papa aber endlich um den Garten kümmern«, sagte Mama. »Schließlich müssen wir vor den gestrengen Augen der Verwandtschaft bestehen, wenn du konfirmiert wirst.«

      Oma Jever rief an, um uns darüber aufzuklären, daß Tante Dagmar noch am Leben sei und sich telefonisch aus Venedig gemeldet habe.

      Auf die erhoffte Lustreise nach Venedig mußte Mama noch warten. In den Pfingstferien würden wir ja erst einmal zur Hausverschönerung nach Vallendar fahren und in den Sommerferien abermals.

      Unkrautschöveln bei Affenhitze, das war mein Los als Konfirmand. Papa begoß alle Beete und Bäume mit Wasser aus dem Gartenschlauch. Dreißig Grad im Schatten waren’s, aber da, wo ich zu schöveln hatte, gab es keinen Schutz vor der Knallsonne, und wenn ich ins Haus ging, um meinen Durst zu löschen, war ich bei den ersten Schritten halbblind. Meine Augen brauchten eine Weile, um sich vom grellen Sonnenschein an das Dämmerlicht im Haus zu gewöhnen.

      Einen Flächenbrand auf der E-Stelle hatten die Spezialisten da erst nach fünf Tagen unter Kontrolle bekommen.

      Den Spiegel kriegte man die ganze Woche über nicht zu kaufen. Da faßte man schon mal den Beschluß, sich eine eigene Spiegel-Sammlung anzulegen, und dann streikten die Drucker.

      Mindestens so gut wie die Geschichten waren auch die Gedichte von Poe. Traurig, meistens, aber tröstlich. Der war auch mal unglücklich verliebt gewesen. »Song« hieß eins, in dem ein Mann von einer Frau erzählte, die bei ihrer Hochzeitsfeier rot wurde, weil sie womöglich den falschen Mann geheiratet hatte, nämlich einen anderen als den Verfasser des Gedichts:

       I saw thee on thy bridal day,

       When a burning blash came o’er thee,

       Though happiness around thee lay,

       The world all love befor thee …

      In einem anderen Gedicht machte sich ein Rabe breit, um Mitternacht, indem er sich auf eine Büste setzte und unentwegt »Nevermore« krächzte, um einem trauernden Witwer die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner verstorbenen Frau zu nehmen.

      And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting,

       On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;

       And his eyes have all the seeming of a demon’s that is dreaming,

       And the lamp-light o’er him streaming throws his shadow on the floor;

       And my soul from out that shadow that lies floating on the floor

       Shall be lifted – nevermore!

      Mit dem Jenseits und dem Grauen vor der ausweglosen Einsamkeit schien Edgar Allan Poe es irgendwie gehabt zu haben, fast bis zur Nekrophilie. Auf seine Liebe zu Annabel Lee waren selbst die Engel im Himmel so neidisch, daß sie die Frau in einem See ersäuften, doch die Liebe blieb über den Tod hinaus bestehen: