Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Sekt und Wasser nach. Was ich albern fand, war, daß Oma Jever und Oma Schlosser einander siezten, obwohl ich die alle beide duzte. »Könnt ihr euch nicht duzen?« fragte ich, und da sahen sich die beiden Großmütter an und giggelten wie die Backfische. Und dann sollte ich ihnen was zu trinken bringen, damit sie ihre Duzfreundschaft begießen könnten.

      Beim Kaffeetrinken um halb fünf hatte man die Wahl zwischen Kirschtorte und Nußtorte, und als die Verwandten endlich alle abgedackelt waren, führte ich mir mein neues Fremdwörterlexikon zu Gemüte. Bordell, Defloration, Ejakulation, Intimität, Klitoris, Koitus, Kondom … Masturbation, Nuditäten, Nudistik, Onanie, Orgasmus … Penis, Pollution, Sexualpathologie, Smegma, Syphilis … Vagina, Vaginismus, Vaginitis und Zölibat …

      Ich fand auch die Wörter Analfistel, Gonokokken, Penetration und Pessar. Und sowas kriegte man nun zur Konfirmation geschenkt.

      Nymphomanie war ein »psychischer Aufregungszustand mit starker geschlechtlicher Erregung beim weiblichen Geschlecht«, und ein Pedant war ein »kleinlicher, peinlich genauer, auf Unwesentliches Wert legender Mensch«.

      Ich fragte Mama, ob Papa ein Pedant sei, und sie mußte ein paar Sekunden lang überlegen, bis ihr als Antwort einfiel, daß es darauf ankomme, was man darunter verstehe. Es gebe da ganz unterschiedliche Auffassungen.

      Im Bett sah ich mir die Leuchtzeiger meiner Armbanduhr an. Wenn man die vorher unter eine Glühbirne gehalten hatte, leuchteten sie strahlend hell.

      Am Montag erzählte Hermann mir, daß Cassius Clay am Samstag in der Fernsehshow von Rudi Carrell von einer Omi aus Jux k.o. gehauen worden sei. Und der Holzmüller habe zur Konfirmation zweitausend Mark eingesackt.

      Nach der Klavierstunde durfte ich die Sonatine in der Aula der Musikschule auf dem Konzertflügel üben. Die Tasten gingen zehnmal schwerer runter als auf unserem Klavier.

      In meinem Zimmer legte ich die Platten von Tante Gertrud auf. Die hatten Schmiß. Da rief Joseph Goebbels aus:

       Läutet die Glocken von Turm zu Turm!

      Und dann, mit wachsender Begeisterung:

       Läutet die Männer, die Greise, die Buben!

       Läutet die Schläfer aus ihren Stuben!

       Läutet die Mädchen herunter die Stiegen!

       Läutet die Mütter hinweg von den Wiegen!

       Dröhnen soll sie und gellen, die Luft!

       Rasen, rasen im Donner der Rache!

       Läutet die Toten aus ihrer Gruft!

       Deutschland, erwache!

      Dann kam eine Rede von Adolf Hitler. Darin feierte er mit Gebrüll »das neue Deutsche Reich der Größe und der Ehre und der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit! Amen!«

      »Hast du sie noch alle?« fragte Mama, mit einem Stapel gebügelter Unterhosen auf dem Arm. »Was hörst du dir denn hier für einen Käse an?«

      Sie sei froh, sagte Mama, daß sie die Hitlerzeit heil überstanden habe.

      Den Wettstreit gegen Richard Dunn in der Münchner Olympiahalle gewann Muhammad Ali nach fünf Runden durch technischen Knockout.

      Um vom Bund das Geld für die nach dem Umzug neu angeschafften Vorhänge und Gardinen erstattet zu kriegen, mußte Papa sämtliche Fenster ausmessen und alle Maße in ein Formular eintragen, und wenn man ihm dabei zu nahekam, brüllte er: »Nimm deine Knochen da weg!«

      Beim Tangramspielen bestand das Ziel darin, schräg geformte Holzstücke zu einem Rechteck zusammenzuschieben. Da hätte ich mich auch freiwillig zum Nachsitzen in Mathe melden können, und ich schmiß die Tangramklötze in die Ecke.

      In Englisch sollten wir so tun, als ob wir Urlaubspostkarten zu schreiben hätten. Going on Holiday.

       Thought you’d like a card from the end of England. The weather has been really terrific since we’ve been here. So we’ve been able to go swimming every day …

      Von wegen. Eigentlich ’ne Frechheit, in der Schule schmachtenden Sträflingen solche Lügen abzuverlangen.

      Zum Vorspielabend in der Musikschule kam Mama mit. Die Aula war proppenvoll, aber in der vorletzten Reihe eroberten wir noch zwei Sitzplätze.

      Ich mußte an achter Stelle auftreten, so ziemlich in der Mitte des Konzertprogramms. An sechster Stelle kamen irgendwelche ungarischen Weisen, und danach stand eine Trompetensuite von Telemann auf dem Programmzettel: Andante, Allegro, Siciliano, Presto und Vivace. In den rauschenden Beifall riefen ein paar Leute »Bravo!« hinein, und dann war ich an der Reihe, mit meinem Stücksken, das nach der Trompetensuite wirken mußte wie Hänschenklein.

      Zuerst mußte ich noch an der Sitzbank herumkurbeln, weil die zu tief war, und dann fielen mir die Scheißnoten runter. Wie bei Dick und Doof. Oder wie in einem Comic, aber dann hätte mir anschließend ’ne Gedankenblase überm Dassel schweben müssen: »Nicht verspielen! Nicht verspielen! Nicht verspielen!«

      Und obwohl ich mich tatsächlich nicht verspielte, fiel der Applaus erschütternd mager aus. »Das war ja so kurz, daß sich das Hingehen kaum gelohnt hat«, sagte Mama, statt mir zu gratulieren. Bis die mich da als neuen Artur Rubinstein hochleben ließen, hatte ich noch viele Übungsstunden vor mir.

      Der jüdische Pianist Rubinstein hatte das Gelübde abgelegt, nie wieder in Deutschland Klavier zu spielen, aber dann war er doch noch einmal aufgetreten, in Hamburg, achtzehn Jahre nach Kriegsende, und Mama sagte, daß wir Rubinstein dafür dankbar sein könnten. Die Nazis hatten dessen Familie fast vollständig ausgelöscht.

      Es regnete sich ein, und zwar so elendiglich, daß man die Hoffnung aufgab, jemals wieder einen Sonnenstrahl zu erblicken. Unablässig war’s am Miegen, wie Mama das nannte, und zu Papa sagte sie, daß es am besten wäre, in unser Haus als nächsten Mieter wieder einen Bundesbediensteten reinzusetzen. So einen könne man besser an die Kandare nehmen als einen Freiberufler.

      Weil ich mein Zimmer nicht ordentlich genug aufgeräumt hatte, war Mama kurz davor gewesen, mir den Film zu verbieten, in dem Jack Lemmon als Kameramann bei einem Footballspiel von einem Schwarzen über den Haufen gerannt wurde. Als tückischer Rechtsverdreher setzte der mit Jack Lemmon alias Harry Hinkle verschwägerte Winkeladvokat Walter Matthau alles darauf an, die Versicherung zu betrügen und möglichst viel Geld aus dem Vorfall herauszuschinden. Widerlich war das, aber auch lustig. Walter Matthau, dieser Typ. Der konnte mit seiner Knautschfresse nur Ganoven spielen.

      Im Stellenanzeigenteil der Zeit stand eine Annonce der Firma Phonogram International. Gesucht wurden

       Translators willing to work on a freelance basis for the translation of classical record-sleeve texts from English into German.

      Bei dieser Firma wollte Mama sich als freie Journalistin bewerben, um auch mal wieder ein eigenes Bein an den Grund zu kriegen.

      Weiter hinten in der Zeit befand sich eine Rubrik namens »Zeit-Lupe«, in der Leute unter 21 jede Woche ihren Senf zu einer Frage abgeben durften.

       Kann man aus der Geschichte lernen?

      Ich setzte mich an meine Schreibmaschine und legte los. Die Politik von heute, schrieb ich, habe zwar kaum noch was mit abenteuerlichen Kreuzzügen und der Verehrung von Kaisern und Königen zu tun, aber aus den Fehlern früherer Staatsmänner etwas zu lernen, das sei durchaus möglich. Innen- und außenpolitisch anwenden könne man das Gelernte natürlich nur, wenn man selber in der Politik etwas zu sagen habe.

      Marke drauf und ab die Post.

      Am drittletzten Spieltag steckte Gladbach eine Heimschlappe ein. 0:2 gegen Schalke! Der HSV und Kaiserslautern hatten beide verloren und waren weg vom Fenster, aber Bayern und Braunschweig hatten beide Unentschieden gespielt.