Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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brauchst du mir nicht zu glauben. Ich geb nur wieder, was meine Eltern erzählt haben. Und die tischen mir gewöhnlich keine Lügenmärchen auf.«

      Als Hermanns Mutter zwei Jahre nach ihrer Hochzeit noch immer kein Kind unterm Herzen getragen hatte, sei der Pfarrer angestrunzt gekommen und habe gefragt, was da los sei.

      Am meisten zu schaffen machten mir, neben der Schule, die Klavierstunden und der nichtendenwollende Frondienst im Kampf gegen die Unkrautplage.

      »Meinst du etwa, uns anderen würde das Vergnügen machen?« fragte Mama. »Das war auch nicht das Ziel meiner Träume, zwei große Gärten am Hals zu haben!«

      In der Küche füllte sie eine Thermoskanne mit Kaffee ab, für Renate, die im Ludmillenstift nur Muckefuck bekam.

      Für Geschichte brauchte Volker alles mögliche über die USA, und er graste fluchend das ganze Haus nach dem Stern-Sonderheft ab. Überall wühlte er rum, auch in meinen Schränken, wie ’ne Wildsau, und wir hätten uns fast gekloppt.

      Und wo lag’s, das blöde Heft? Bei Volker auf der Fensterbank.

      Ich selbst war in Geschichte erst beim Dreißigjährigen Krieg, der ausgebrochen war, als böhmische Adlige drei vornehme Leute durch ein Schloßfenster auf einen Misthaufen geschmissen hatten. Der Prager Fenstersturz.

      Um der Klasse einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es zugegangen war, wenn den umherziehenden Soldaten der Sinn nach Plünderung, Brandstiftung, Vergewaltigung und Folterung gestanden hatte, las der Wolfert ein paar Seiten aus Grimmelshausens »Simplizissimus« vor.

       Den Knecht legten sie gebunden auf die Erd, steckten ihm ein Sperrholz ins Maul und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in Leib: das sie ein schwedischen Trunk nenneten …

      Dem gefesselten Bauern hatten sie nasses Salz an die Fußsohlen geschmiert und es von einer Ziege ablecken lassen, so daß er vor Lachen starb.

      In der Pause fragte mich Hermann, was ich denn bevorzugt hätte, die Ziegenzunge oder den Schwedentrunk? Und ob ich eigentlich was für Tanja Gralfs übrig hätte? Ich würde so oft in deren Richtung kucken.

      Das gewöhnte ich mir ab.

      Für Renate waren gleich zwei dicke Briefe von Olaf angekommen und dazu noch eine Karte und eine amtliche Mitteilung, aus der hervorging, daß Renate in Bonn weiterstudieren dürfe.

      Ein geschäftliches Schreiben hatte auch ich erhalten, von dem Berufsfortbildungsfritzen mal wieder. Anstelle einer höflichen Anrede fing der Brief mit den Worten an:

       ICH FORDERE SIE HERAUS!

      Auf den Fotos in den früheren Briefen hatte einem dieser Mensch noch freundlich zugezwinkert, aber davon war er mittlerweile abgekommen. Für die aktuelle Lieferung seiner Korrespondenz hatte er ein Foto ausgewählt, auf dem er mich grimmig anstarrte. Keine Spur mehr von einem Lächeln. Verkniffener Mund, gerunzelte Stirn, zusammengezogene Augenbrauen und darunter ein kalter, stechender Blick. Klarer Fall: Ich hatte diesen Mann enttäuscht. Zutiefst.

      Und das nahm er mir persönlich übel. Wenn ich so weitermachte, schrieb er mir, sinngemäß, dann wäre der Ofen bald aus. Dann könnte ich die Flinte auch gleich ins Korn werfen. Er habe mehr von mir erwartet! Ob ich denn wirklich die Hände in den Schoß legen und von einer entscheidenden Verbesserung meiner beruflichen und damit auch privaten Situation nur phantasieren wolle? Während andere das große Geld machten und der Verwirklichung ihrer kühnsten Träume durch harte Arbeit täglich ein Stück näherkämen?

      Der Typ versuchte es mit allen Mitteln, und ich fragte mich, ob der mir irgendwie am Zeug flicken konnte, weil ich ihn reingelegt hatte? Der ahnte ja nicht, daß ich noch die Mittelstufe besuchte.

      Ich ließ es darauf ankommen und steckte auch diesen Brief in die Mülltonne. Wer die Hände in den Schoß legte, der brauchte ja, wie man von Otto Waalkes wußte, noch lange nicht untätig zu sein.

      Renate durfte wieder aufstehen, ging aber noch ziemlich eierig nach ihren fast einhundert Liegestunden.

      Die ausgeschabte Frau im Nachbarbett hatte Besuch von ihrem Mann, aber sie stierte stumm zur Zimmerdecke, und der Mann saß da und blätterte in einer Illustrierten. Frau mit Herz.

      Renate nörgelte über ihre Plimpersuppe und das eklige Aroma von Äthanol und Sagrotan und das ewige Kirchenglockengeläute. Ihre Ohren seien schon fast taub davon.

      Aus der Stadtbücherei besorgte ich mir den »Simplizissimus«. 766 Seiten hatte die Schwarte, in der ich als erstes nach der Stelle mit dem Furz beim Servieren suchte. Die war im Buch sogar noch komischer als im Fernsehen:

       Je greulicher der Unterwind knallete, je grausamer das »Je pète« oben herausfuhr, gleichsam als ob meines Magens Ein- und Ausgang einen Wettstreit miteinander gehalten hätten, welcher unter ihnen beiden die schröcklichste Stimm von sich zu donnern vermöchte.

      Zur Strafe wurde Simplex »zerkarbeitscht«, was den Tischgästen nicht viel nutzte:

       Da brachte man Rauchtäfelein und Kerzen, und die Gäst suchten ihre Bisemknöpf und Balsambüchslein, auch sogar ihren Schnupftobak hervor, aber die beste Aromata wollten schier nichts erklecken. Also hatte ich von diesem Actu, den ich besser als der beste Komödiant in der Welt spielte, Friede in meinem Bauch, hingegen Schläg auf den Buckel, die Gäst aber ihre Nasen voll Gestank und die Aufwarter ihre Mühe, wieder einen guten Geruch ins Zimmer zu machen.

      Solche Unterwinde waren mir wohlbekannt. »Die leisen sind die schlimmsten«, sagte man im allgemeinen, aber das stimmte nicht.

      Im Dritten lief ein angsteinflößender Spielfilm über ein autoritäres Regime, in dem gedungene Mörder, korrupte Staatsanwälte und ein Oberfinsterling von Polizeipräsident die meiste Zeit über am längeren Hebel saßen als ihre Gegner, und als man aufatmen wollte, weil es endlich andersrum zu kommen schien, putschte sich das Militär an die Macht. Und das ging noch brutaler zur Sache.

      Als normaler Mensch hätte man da in den Untergrund gehen müssen. Oder abhauen, wenn man nicht gefaßt und beim Verhör aus dem siebenten Stock des Polizeipräsidiums geworfen werden wollte.

      Constantin Costa-Gavras hieß der Regisseur.

      Gegen die Jugos taten wir uns schwer im Halbfinale der EM in Belgrad. Die gingen früh in Führung und erhöhten dann auf 2:0, und nach dem Seitenwechsel sah’s anfangs kaum rosiger aus. Gerd Müller fehlte eben an allen Ecken und Enden! Erst in der 65. Minute bescherte uns der eingewechselte Kölner Heinz Flohe wenigstens den Anschlußtreffer, aber das genügte noch nicht. Ein glückliches Händchen hatte Helmut Schön dann allerdings auch bei der Einwechslung von Dieter Müller, der in der 79. Minute für Herbert Wimmer auflief und sofort den Ausgleichstreffer schoß, gleich bei der ersten Ballberührung in seinem allerersten Länderspiel!

      In der Verlängerung ging den Brüdern vom Balkan die Puste aus, und Dieter Müller krönte seinen Einstand mit zwei weiteren Toren.

      O happy day!

      Renate machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter: Nach der Entlassung hatte sie zu ihrem Oläfchen abdampfen wollen, aber dann gab’s neue Malessen mit ihrem Eileiter, und sie mußte noch am selben Tag zurück zur stationären Behandlung.

      Im Fernsehen wurde die Hochzeit von Sylvia Sommerlath und dem schwedischen König Karl Gustav übertragen. Die kannten sich von den Olympischen Spielen in München, wo Sylvia Sommerlath als Hosteß gearbeitet hatte, genau wie Tante Dagmar. Ewig schade, daß es damals nicht zwischen Karl Gustav und Tante Dagmar gefunkt hatte. Oma Jever wäre im Dreieck gesprungen! Und ich hätte jetzt die Königin von Schweden als Patentante gehabt.

      Im »Simplizissimus« war ich steckengeblieben. Ich wollte was Spannenderes lesen und suchte mir im Wohnzimmer vor dem Zubettgehen einen von Mamas Krimis aus, »Der Pate« von Mario Puzo, und da gingen mir die Augen über. Im ersten Kapitel verkloppte ein besoffener Mann seine untreue Frau, aber die ließ ihn kalt auflaufen: