Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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damit sie für mich zurückgelegt wurden. In Koblenz, das ahnte ich, würde ich mir vergeblich die Hacken danach wundrennen, und in meiner Sammlung sollte keine Lücke klaffen.

      In der Spiegel-Titelgeschichte ging es um den Aufstand der Schwarzen in Südafrika. Die vier Millionen weißen Südafrikaner würden durchschnittlich achtzehnmal soviel wie die 21 Millionen Farbigen verdienen und drei Viertel des Volkseinkommens unter sich aufteilen, und bei den Protestdemonstrationen in Soweto hätten Polizisten einfach in die Menge geschossen, auch auf Kinder. Ein Blutbad, abgesegnet von Präsident Vorster.

      Ich war am Packen. Fußballschuhe, Fußball, Fußballuftpumpe, Bücher, Schreibmaschine, Strümpfe, Hemden, Unterbuxen und zwei Jeans, zum Wechseln. Und was sonst noch?

       Feuer, Pfeife, Stanwell.

      »Grundgütiger!« rief Mama. »Du willst doch wohl nicht diesen Trumm von Schreibmaschine mitnehmen? Wenn du in Vallendar was zu tippen hast, dann kannst du mich auch höflich darum bitten, ob du meine haben darfst, vorausgesetzt, du haust die nicht in Dutt. Und vergiß deine Zahnbürste nicht!«

      Bessere Laune kriegte Mama erst abends bei einem Film, in dem eine scheinbar harmlose Rentnerin auf raffinierte Weise eine Bank aufs Kreuz legte. Da rieb Mama sich die Hände und schenkte sich und Papa noch einen Sherry ein.

      Abfahren mußten wir schon morgens um sechs. Papa hatte sich für elf Uhr mit unserem neuen Mieter in Vallendar verabredet, aber wir kamen erst um kurz vor halb sieben los, weil der Peugeot nicht anspringen wollte, und dann hätten wir noch fast Papas Koffer in der Einfahrt stehengelassen. Wir waren schon in der Kurve zur Umgehungsstraße, als ich im Rückspiegel Mama angerannt kommen und gestikulieren sah.

      Das fing ja prima an.

      Mama wollte mit Wiebke im Polo nachkommen und unser Bruchpilot Volker per Bahn und Moped.

      Bis Münster ging’s noch mit der Temperatur, aber dann wurde man im Auto fast malle vor Hitze, und erst recht im Stau auf der Autobahn.

      Wenn das so weitergehe, kriege er bald ’n Dahlschlag, sagte Papa.

      Ich blätterte im »Shell-Atlas«. Das Pannenhilfe-ABC. Schlüssel abgebrochen?

       Laubsägeblatt mit der Zähnung einführen und gegen die Zähnung herausziehen, evtl. mit Graphit, Öl oder Magnet unterstützen.

      Den Autofahrer hätte ich sehen wollen, dem dieser Tip irgendwas genützt hätte. Wer fuhr denn mit Laubsägeblättern im Handschuhfach los? Beim Abschleppen sollten Strumpfhosen von Nutzen sein:

       Wußten Sie, daß ein Nylonstrumpf gut und gerne ein Abschleppseil ersetzt?

      Nein, das hatte ich nicht gewußt. Und was war mit langen Männerunterhosen? Ob man auch damit Autos abschleppen konnte?

      Vor uns kroch ein Renault mit dem Stadtkennzeichen UFF herum, und Papa wollte wissen, wofür das stand. Laut »Shell-Atlas« stammte der Wagen aus 8704 Uffenheim.

      Ich lauerte auf andere auffällige Autokennzeichen, aber es kamen keine mehr, weder S-EX noch KO-TZ noch KA-CK. Das Lustige an den Kennzeichen mußte man sich selbst ausdenken, wenn man die Bedeutung nicht schon kannte. BA (Bamberg): Blutiger Anfänger. BB (Böblingen): Blinder Bauer. BS (Braunschweig): Besengte Sau. KG (Bad Kissingen): Kein Gehirn.

      Am witzigsten waren die mir bekannten Auflösungen der dreibuchstabigen Stadtkennzeichen. FFB (Fürstenfeldbruck): Fahrer fährt besoffen. SHA (Schwäbisch Hall): So hasten Arschlöcher. VIE (Viersen): Vollidiot im Einsatz. WUN (Wunsiedel): Wildsau unter Naturschutz.

      Und wir selber? MEP: Muß eilig Pipi. Oder: Möchte Europa plattwalzen.

      Ein Mercedes aus Jever überholte uns. JEV: Jeder ein Verrückter.

      Es war schön, auch mal vorne sitzen zu dürfen, mit freiem Blick auf Täler und Höhen oder im nächsten Stau auf die Kinder, die sich in dem Wagen vor uns zu viert oder zu fünft auf der Rückbank zusammenquetschten und stritten.

      Einmal mußte Papa bei 137 km/h einen Schlenker über die Standspur machen, um den sterblichen Überresten eines Igels auszuweichen.

      Ich nahm mir die neuen Lausbubengeschichten von Ludwig Thoma vor. Da ging’s zuerst dem Vogel der widerwärtigen Tante Frieda an den Kragen, mit Zündpulver, und dann kam eine schöne indische Kusine zu Besuch, die Cora hieß. Der starke und zugleich schüchterne Bierbrauer Franz verliebte sich in Cora, ohne bei ihr landen zu können, weil er eben nur ein Bierbrauer war, aber vor ihrer Abreise lief sie ihm auf dem Bahnsteig entgegen, um einen Strauß Blumen in Empfang zu nehmen.

       Sie hat die Blumen genommen, und sie hat gesagt, es freut sie, und sie hat ihm die Hand fest geschüttelt und hat gesagt, leben Sie wohl und behalten Sie mich in einem guten Andenken. Dann ist sie weg, und der Franz hat nichts sagen gekonnt und hat sich geschwind umgedreht, daß man nicht sieht, daß er weint.

      Und die schöne Cora fuhr zurück nach Indien. An ihrer Stelle hätte ich den Bierbrauer erhört und wäre dageblieben.

      Irgendwo hinter Remscheid war Papa falsch abgebogen und wollte zurück, aber zwischen unserer Fahrspur und der Gegenfahrspur verlief eine niedrige Mauer, die überhaupt nicht mehr aufhörte, kilometerlang. Man dachte immer, nach der nächsten Kurve wäre Schluß damit, aber die Mauer wollte einfach kein Ende nehmen, und rechts abbiegen und wenden konnte man auch nicht.

      »Was ist denn das für ’ne bekloppte Scheiße«, sagte Papa, und ich kriegte einen Lachkrampf, von dem sich auch Papa anstecken ließ, umso doller, je länger wir in die falsche Richtung fahren mußten.

      Gut, daß Mama nicht dabei war. Von Papas Zigaretten fielen haufenweise Krümel auf den Boden, und der Aschenbecher quoll über.

      Auf dem Mallendarer Berg lief ich zu Gerlachs, aber die waren gerade am Essen, und am Nachmittag hatte Michael keine Zeit, weil er so viele Hausaufgaben aufhatte. »Kennste ja, die alte Leier«, sagte er, und Holger zeigte mir durchs Küchenfenster einen Vogel.

      In unserem alten Haus wohnten wir nur provisorisch. Tische, Stühle und Matratzen: alles Leihgaben von Rautenbergs, unseren ehemaligen Nachbarn, die wir dann auch noch peu à peu um Filtertüten, Tesafilm, Baldrian, Pflaster, Klopapier und eine Nagelschere und ein Teesieb anzubetteln hatten.

      Renate war nach Bonn entschwunden, um da irgendwas Dringendes zu erledigen. Immer auf der Flucht vor der Gartenarbeit: So hätte ich’s auch gemacht, wenn ich gekonnt hätte.

      Auf dem Fußballplatz fand ich keinen einzigen meiner alten Vereinskameraden wieder. Da rannten irgendwelche alten Herren um die Wette, mit schwappendem Bierbauch, und ein mir persönlich unbekannter Platzwart wies mich darauf hin, daß die Bolzerei von dreizehn Uhr bis fünfzehn Uhr dreißig zu unterbleiben habe, wegen der Mittagsruhe.

      Dreckig und verschwitzt kam Volker abends an und moserte über die Victoria und deren Dreitaktgemisch. Die pesere wie sonstwas. Mit einer einzigen Pferdestärke den Wilgeshohl hoch, bei 24 % Gefälle, das habe die alte Kanne fast umgebracht, sagte Volker auf dem Weg in die obere Badewanne, die er aus Gewohnheit benutzte, obwohl die untere im Erdgeschoß länger war und Volkers Extremitäten mehr Raum zur Entfaltung geboten hätte.

      Der Polo, in dem Mama vorfuhr, hatte das Kennzeichen MEP-IS 77. IS wie Ingeborg Schlosser. Das hatte Mama der Zulassungsstelle abgetrotzt.

      Ewig und drei Tage lang hätten sie und Wiebke da noch warten müssen, sagte Mama. Mitgebracht hatte Mama die neue Zeit, und in der stand mein Beitrag drin! Stark gekürzt, und einen Satz hatte ich irgendwie anders formuliert, aber was soll’s? »Martin Schlosser, 14 Jahre«, stand untendrunter.

      Jetzt war ich also ein freier Mitarbeiter der Zeit. Sieh mal kucke.

      Als nächstes sollte man in der Rubrik die Frage beantworten, ob Zensuren im Sportunterricht heute noch sinnvoll seien. Ich pflanzte mich vor Mamas Schreibmaschine. Schüler mit guten Sportnoten, schrieb ich, würden diese Frage sicherlich bejahen, während Schüler mit schlechten Sportnoten wahrscheinlich anderer Meinung