der nächsten Ampel kehrt.
»Was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben«, sagte Wiebke, aber Volker sagte: »Nein, im Benzintank!«
Ich selbst hatte von der Autofahrerei bereits nach drei Kilometern genug gehabt. Nach der Entfernungstabelle im Shell-Atlas waren’s von Koblenz bis Münster 252 Kilometer und bis Emden 475. Irgendwo dazwischen mußte Meppen liegen.
Weiß der Schinder, wie ich diese Reise überstand.
Zuhause lief ich sofort in mein Zimmer, um die Platte von Insterburg & Co. aufzulegen. Am schönsten spielten wie gewohnt Karl Dall und Peter Ehlebracht auf:
Ich saß bei Fräulein Hildegard auf ihrem Kanapee.
Sie aß einen Negerkuß, und ich aß ein Baiser.
Ihr linkes kleines Händchen, das lag auf meinem Knie,
doch eine Sofafeder kniff mich, daß ich schrie:
O Hildegard,
dein Sofa ist so hart,
da wird aus Liebesfreud,
das reinste Lie-bes-la-heit …
Hinten auf der Plattenhülle waren die benutzten Instrumente abgebildet, eins uriger als das andere. Selbstgebastelte zum Teil.
Ich suche mir ein Mädchen, das mir die Schuhe putzt,
und das mich zärtlich bettet und auch zu anderm nutzt …
Um Sex ging’s in den meisten Liedern, aber es gab auch eins über die trostlose Jugendzeit von Dall und Ehlebracht:
Ich denk’ an meine Jugendzeit, sie liegt so weit zurück.
Wie war sie voller Harmonie und voll von stillem Glück!
Wie schön war jeder Donnerstag, wenn Vater sich betrank …
Dann saß ich still mit meinem Teddybärn in Mutters Wäscheschrank.
Da konnte man sich schon beim ersten Hören aufs Wiederhören freuen. Eine bessere Truppe als Insterburg & Co. war mir noch nicht über den Weg gelaufen. Absolute Oberklasse war auch Ingo Insterburgs Lied über die Kaulquappen, die nicht sogleich Füße haben und irgendwann ihre Kiemen abgeben müssen:
Und dann verlieren sie ihr Schwänzelein.
Ich möchte nie eine Kaulquappe sein …
Die B-Seite fing mit einem »Vier-Parteien-Lied« an, in dem die Insterburger ihre politischen Präferenzen durchblicken ließen:
Die SPD, juchhee, juchhee, juchhee!
Die CDU, huhu, huhu, huhu …
Zum Schluß nahm Karl Dall Hans Albers auf die Schippe, als schluchzender Seemann beim Abschiednehmen am Hafen. Zum Bepissen! Und ein Jammer, daß ich das Michael und Holger Gerlach nicht vorspielen konnte. Bei uns hatte außer mir ja leider niemand Sinn für diese Art Humor.
Das Unkraut hatte sich inzwischen natürlich wie wild vermehrt, und ich hätte wohl kotzen können, als ich da gezwungenermaßen mit dem Schövel zu Werke ging.
In der Buchhandlung Meyer wußte kein Mensch irgendwas über den Verbleib der im voraus bezahlten und für mich reservierten Ausgaben von Sport Niedersachsen. Hä? Zurückgelegt? Für Schlosser? Nein, da sei nichts zurückgelegt worden. Das müsse ein Irrtum sein.
Die blonde Schnepfe, die mir das sagte, war neu bei Meyer, und ich konnte ihr nichts beweisen, weil ich die Quittung verbaselt hatte.
Den Plan, eine vollständige Sammlung von Sport Niedersachsen zusammenzutragen, gab ich auf, und die bereits gekauften Exemplare schmiß ich weg. Die hätten mich sonst bis ans Lebensende an die Unvollständigkeit meiner Sammlung erinnert.
Der 29. Juli war in Rheinland-Pfalz der erste Sommerferientag. Die hatten dann noch frei bis zum 8. September, die Schweine, während ich meine letzten Ferientage mit ’ner Nasennebenhöhlenentzündung verbringen durfte. Der HNO-Spezialist, zu dem Mama mich geschickt hatte, verschrieb mir Nasentropfen und Tabletten, die laut Packungszettel den Bronchialschleim verflüssigten, die Auswurfmenge erhöhten und das Abhusten gestauter Sekrete erleichterten. Da wurd’s einem ja fast schon vom Lesen übel.
Trotz Schniefnase und leichtem Fieber durfte ich mir abends einen Spielfilm über zwei Glücksspieler ankucken, die sich beim Zocken die Nächte um die Ohren schlugen und sich mit Callgirls herumtrieben.
Papa war zum Glück schon eingeschlafen, als am Ende des Films eine Szene kam, in der der eine der beiden Hauptdarsteller, Elliott Gould, eine Flöte mit seinem Pimmel festhielt. Regie geführt hatte Robert Altman.
Am Pokertisch alles auf eine Karte zu setzen, das wäre auch nicht nach Papas Geschmack gewesen. Der Anblick einer nachlässig ausgekratzten Nachtischpuddingschüssel genügte schon, um Papa wütend zu machen.
Komischerweise gefiel ihm dann am Samstag aber Peter Ustinov als fetter Kaiser Nero, der die Stadt Rom in Brand stecken ließ, um sich an diesem Schauspiel zu weiden. Da gnickerte Papa die ganze Zeit vor sich hin.
Als man am Ende des Films den über Kopf gekreuzigten Petrus sah, sagte Mama, daß es nun aber auch bald mal genug sei.
Nach einer Kollision auf dem Nürburgring war Volkers Idol Niki Lauda halbtot aus seinem brennenden Ferrari gezogen worden.
»Formel Eins«, sagte Mama, »wenn ich das schon höre! Wer sich in so ’ne Höllenmaschine setzt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn er irgendwann hopsgeht!« Autorennfahrer waren in Mamas Augen so ziemlich das Letzte. Darunter rangierten bloß noch Zuhälter, Mörder und andere Asoziale. »Und was hat dieser Idiot nun von seinem Geschwindigkeitsrausch? Könnt ihr mir das mal erklären?«
Auf der Fahrt von Vallendar nach Meppen hatte Mama aber selber öfter als nötig auf das Gaspedal gedrückt.
Erst jetzt kam so nach und nach raus, welche Folgen die Explosion einer Chemiefabrik in Seveso bei Mailand zeitigte. Die ganze Gegend verseucht, mit Dioxin, das giftiger als Zyankali war. Notgeschlachtete Tiere, Kinder mit verätzter Haut, und die Behörden hatten abzuwiegeln versucht, statt den Leuten zu helfen.
Aus Dänemark schrieb Onkel Dietrich mir auf einer Postkarte, daß er bei einer ihm von seiner Frau verordneten »Hauruck-Schlankheitskur« innerhalb von drei Wochen sieben Kilo abgenommen und dabei auch einige Nerven gelassen habe.
Am letzten Sommerferientag kurvte ich mit dem Rad durch den Waldverschnitt bei der E-Stelle, obwohl ich wußte, daß es da genauso unbelebt war wie zuhause, aber ich wollte noch einmal raus, bevor das ganze Elend von neuem anfing.
Wiebke würde auf die Kardinal-von-Galen-Schule kommen, in die Orientierungsstufe, Volker zu den Maristen und ich auf meiner Penne in die Neunte. Was einem da wohl in Physik, Chemie und Mathe alles drohte. Die Karnickel hatten’s gut: Die konnten sich bei dem geringsten Anzeichen einer Gefahr in ihren Bauten verkriechen. Oder die Vögel, die nicht säten und nicht ernteten, und der himmlische Vater ernährte sie doch.
Neuntes Schuljahr, das hieß, daß ich vor dem Aufbruch in die Freiheit noch fünf Jahre totzuschlagen hatte.
Südafrika wurde von neuen Rassenunruhen erschüttert, und der Fernsehabend endete damit, daß sich John Wayne und Lee Marvin auf einer Insel im Südpazifik gegenseitig die Fresse polierten.
Morgens hätte ich mir fast in die Hose gepißt, weil Wiebke so lange auf dem oberen Lokus hockte, und beim Frühstück kriegte ich Krach mit Mama wegen einer Haarsträhne an meinem Hinterkopf, die sich aber auch mit Gewalt nicht runterbürsten ließ.
Ins Klassenzimmer, das das alte war, kam ich zu spät, um mir einen Stuhl neben Hermann sichern zu können. Den einzigen