Gerhard Henschel

Sieben Martin Schlosser Romane in einem Band


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Platz herumlaufen, aufgreift, damit bei mir vorbeisprengt, und »Bassa Teremtetem!« ruft, und »Sieht Er wohl, Herr Wirt?« und »Adieus!« und »auf Wiedersehn!« und: »hoho! hoho! hoho!« – – So einen Kerl, sprach der Wirt, habe ich zeit meines Lebens nicht gesehen.

      Kleist, sagte der Wolfert, sei der bedeutendste Grammatiker der deutschen Literaturgeschichte.

      Auf dem Pausenhof stürzten Hermann Gerdes und ich mit Luftsäbeln aufeinander los: »Bassa Menelka!« rief Hermann, und ich rief: »Bassa Teremtetem!«

      Besser das als alle Dreieckskongruenzsätze in Mathe oder in Erde die natürlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Agrarnutzung und des Wandels der Agrarlandschaften in den USA und in der UdSSR. Kolchosen und Sowchosen. Obwohl ja auch die zur Allgemeinbildung gehörten.

      Morgens um halb acht klingelte es an der Tür: ein Eilbrief, für Renate von Olaf! Wiebke flitzte damit hoch in Renates Zimmer. Was in dem Schrieb drinstand, würde man wahrscheinlich nie erfahren.

      In Englisch kam ich auch ohne größere Anstrengungen einigermaßen zurecht. Das fiel mir irgendwie so zu.

       New York is the most active city on earth, with the world’s biggest harbour, busiest station, largest department store, highest skyscraper, largest theatre.

      Die Insel Manhattan hatte ein Holländer den Indianern vor 350 Jahren für ein paar Glasperlen und anderen Krimskrams abgekauft.

      In Physik lernte ich das Wort »Proportionalitätsfaktor« kennen. Der reinste Zungenbrecher. Fischers Fritze fischte frische Proportionalitätsfaktoren.

      Mittags stürzte ich mich auf Michael Gerlachs neuesten Brief.

       Gähn!

       Mensch, ist das hier langweilig! Nichts los, nichts zu tun, zu nichts Lust. Deshalb sitz ich ja auch um elf Uhr nachts noch hier und schreibe dämliche Briefe an noch dämlichere Ostfriesen in Meppen.

       Vor Tatendrang zu bersten würde mir auch nicht helfen, denn was nützt einem der Tatendrang, wenn keine Taten da sind? Außer Geschirrspülen und Staubsaugen? Noch nicht mal Lust zum Schlafengehen hat man. Zumindest nicht vorher. Morgen penne ich garantiert bis 12 Uhr mittags, wie ich das bisher an jedem Ferientag gemacht habe. Außer an einem, da sind der Harald, der Holger und ich zum Köppel gefahren. Was heißt gefahren, geächzt! Zumindest ich. War total fertig. Beinah wäre ich auf’m Rad noch eingeschlafen, bloß die rasenden Kopfschmerzen waren hinderlich. Na, der Rückweg ging dann ja, den schmalen Serpentinenweg runter und dann über Ransbach-Baumbach.

       Dabei habe ich mir den rechten Zeigefinger an der Gangschaltung aufgerissen. Irgend so’n tückischer Draht lünste vor, und schon war’s zu spät. Sauerei, verdammte. Hindert außerordentlich am Schreiben, so’n aufgeschlitzter Finger. Aber was tut man nicht alles gegen die Langeweile. Selbst größte Schmerzen scheut man nicht.

       Jetzt isses halb zwölfe. Scheiße.

       Bin immer noch nich’ müde. Wenn ich schon das ungemachte Bett sehe, vergeht mir die Lust am Pennen. Überhaupt sieht meine Bude aus wie’n Saustall, nur ohne Sau (oder irre ich mich?). Daran ist diese vermaledeite Antenne vom Elektronikbaukastenradio nicht unschuldig. Die fliegt nämlich irgendwo hier im Zimmer rum. Momentan in meinem Gesicht. Aber daran hab ich mich schon gewöhnt, an dieses bribblige Gefühl in der Nase, wegen meiner Brille. Die is’ kaputt, und weil ich zu faul bin, sie zur Reparatur zu bringen, laß ich sie einfach in meine Nase pieken. Das hält mich wenigstens wach, tagsüber.

       Die Patrone vom Füller läßt nach. Wahrscheinlich, weil er wie verrückt ausläuft, aber nich’ aufs Papier, nee, auf meine Finger. Besonders auf den aufgeschlitzten. Au, das brennt. Mensch, geht’s mir dreckig!

       So, mir reicht’s. Vielleicht schreib ich den Brief morgen weiter, wenn ich besserer Laune bin, was allerdings sehr unwahrscheinlich ist.

       Du hast Pech, ich hab einigermaßen gute Laune. Wir haben den ganzen Vormittag Monopoly gespielt. Ich hab verloren. Harald und Holger sind noch dran. Sonst ist nichts los gewesen.

       Bleibt noch Tschüß zu sagen. Und: Happy Birthday to you!

      Ach Gott, ja, mein 14. Geburtstag! Der würde ohne Feier über die Bühne gehen. Wen hätte ich schon dazu einladen sollen, außer Hermann Gerdes?

      Ich schrieb zurück, daß auch Meppen vom Virus der Langeweile befallen worden sei und herzzerreißend unter dessen Knute stöhne. Das heißt, der einzige, den ich stöhnen hörte, war ich selbst. Alle anderen schienen das Leben in Meppen für ganz normal zu halten, abgesehen vielleicht von Renate, der bei jedem ihrer Besuche spätestens am dritten Tag die Decke auf den Kopf fiel.

      In ihrem alten Zimmer war Renate am Packen. Im Flur standen schon drei Koffer, ein pralles Einkaufsnetz, ein Papierkorb mit Kleiderbügeln, Pappröhren mit Postern, eine Henkeltasche mit dem zusammengefalteten Bettüberwurf, zwei Klappstühle und ’ne rote Holzkiste mit Küchengeschirr, und quer in der Landschaft lag Renates Flokati, eingerollt und verschnürt.

      Unser Haus auf dem Mallendarer Berg sollte nicht wieder neu vermietet, sondern endgültig verkauft werden. Das eröffnete Mama uns abends beim Schnittenschmieren. In den Sommerferien wollten Papa und sie Haus und Garten auf Zack bringen und die Immobilie dann an den Meistbietenden verscheuern.

      Aus der Traum!

      Und dann sollte Mama ein neues Auto bekommen. Von dem durchgerosteten VW hatte Papa die Faxen dicke.

      Am Donnerstag kaufte ich mir nach der Schule zum erstenmal im Leben den Spiegel, von meinem eigenen Taschengeld. Wenn Gustav dazu in der Lage war, dann konnte ich das ebenfalls.

      Mama war nach dem Frühstück mit Papa und Renate nach Bielefeld abgedüst und hatte Volker vorher alle Handgriffe beigebracht, die er kennen mußte, um Wiebke, mich und seine Wenigkeit mittags mit Dosenravioli zu versorgen.

      Zum Nachtisch pfefferte Volker drei Kirschjoghurtbecher auf den Tisch. »Löffel könnt ihr euch ja wohl selber holen!« Und dann braute er sich in der Küche einen Kaffee zurecht.

      »Auto-Preise – Die Konzerne schlagen zu«, so hieß die Titelgeschichte der aktuellen Spiegel-Ausgabe.

       Nachdem Daimler Anfang 1976 getreu den Bräuchen der Branche die Vorstellung seiner neuen »kleinen Klasse« zu einem Aufschlag von etwa acht Prozent genutzt hatte, folgten ungeniert die Produzenten von Massenautos: Ford legte, noch vor Abschluß der Lohnrunde, fünf Prozent Preisaufschlag vor, Volkswagen erhöhte am 29. März im Durchschnitt um 4,6 Prozent. Die General-Motors-Tochter Opel folgte einen Tag später: Ihre Verkäufer verlangen seither 4,7 Prozent mehr.

      Ob man sich das merken mußte? Gustav hatte sich das bestimmt alles bereits am Montag durchgelesen und es bis ins kleinste Detail in seine Gehirnwindungen eingekerbt, irgendwo neben den Ergebnissen jedes Spieltags der Bundesliga seit 1963.

      Wenn es zur Zeit Christi schon Atomreaktoren gegeben hätte, dann wäre laut Spiegel jetzt erst ein Prozent der Zeit abgelaufen, in der der Atommüll von damals radioaktiv gestrahlt hätte. Ein einziges mageres Prozentchen, nach zweitausend Jahren! Das hatten irgendwelche Physiker ausgerechnet. Also produzierten die Atomstromfabrikanten unserer Tage Müll, den unsere Nachfahren noch in rund zweihunderttausend Jahren wie die Schießhunde bewachen müßten. Da konnte man ja wohl nur mit den Ohren schlackern. So eine Frechheit! Hier die dicken Leuchtreklamen anbringen, und die Zeche dafür durften noch im Jahr 201976 die Nachfahren bezahlen, denen wir unsere Atommüll-Endlagerstätten vererben wollten? Was konnte da nicht alles vorfallen, in zweihunderttausend Jahren, wenn man bedachte, was allein in den letzten fünfzig Jahren los gewesen war: Zweiter Weltkrieg, Hiroshima, Korea-Krieg, Vietnam-Krieg …

      Im Spiegel stand auch ein Artikel über bayrische Katholiken, die mit einem »Gebetssturm« gegen den Sexualkundeunterricht kämpften, damit »alles wieder echter und sauberer wird« und die Kinder aus dem »Teufelskreis der Onanie« wieder zu »Zucht und Ordnung