und streng deinen Grips an!«
Im Dritten lief ein Film über einen Waisenknaben, der im Wald aufgewachsen war, unter Wölfen, so ähnlich wie Mogli, und da wäre er auch lieber geblieben, als geschnappt und zivilisiert zu werden. Konnte natürlich kein Wort sprechen und hatte noch nie mit Messer und Gabel gegessen. Wie in dem Lied von Reinhard Mey:
Er trinkt nicht vom Geschirre,
Den hat die Wölfin gesäugt!
Nachts schlich sich der Junge nach draußen, um den Vollmond anzuheulen, so wie früher als Wolfskind.
Irgendwie erinnerte der mich auch an Huckleberry Finn. Der hatte sich genauso ungern von der Witwe Douglas umerziehen lassen wollen. Und dann die permanente Beterei bei der … aber andererseits, so ein weiches, warmes Federbett, das hatte doch auch was für sich, verglichen mit ’ner steinigen Kuhle im Wald, ganz allein unter Wölfen und Eulen und Mäusen. Ohne Fernsehen, ohne Fußball? Ohne Geburtstagstorten und Asterixhefte?
Der neue Stern enthielt ein fettes Sonderheft über die USA, zu deren zweihundertstem Geburtstag. Fotos von Mammutbäumen im Sequoia-Park: Bis zu sechs Meter Durchmesser hatten die Dinger und waren neunzig Meter hoch und dreieinhalbtausend Jahre alt. Als Jesus ans Kreuz geschlagen worden war, hatten die da schon anderthalbtausend Jahre lang aufgeragt.
The American Way of Life. Wenn die Highways Schlaglöcher hätten, sagte Papa, würden die Amis einfach neue Highways in die Landschaft klotzen, parallel, statt die kaputten zu reparieren.
In dem Sonderheft stand auch was über die Pilgerväter, die im 17. Jahrhundert auf der Mayflower von Europa nach Amerika geschippert waren. Mutige Mannen! Und ich? Als Dreikäsehoch hatte ich mal kurz das Steuer festhalten dürfen, auf dem Fischerkahn von Onkel Bertus, irgendwo bei Hooksiel.
Weil ich mich für keinen der vielen Fortbildungskurse entschieden hatte, kriegte ich wieder einen Brief von dieser einen Firma da, deren Boß mir jetzt mitteilte, daß ich den Wert einer beruflichen Qualifikation nicht unterschätzen dürfe.
Mama wurmte es, daß ihre Fotos vom Abendrot in Namibia nichts geworden waren. Viel zu blaß! In natura hätten die Sonnenuntergänge viel grandioser ausgesehen. »Das ist ja fast zum Heulen«, sagte sie und beförderte einen ganzen Stoß Fotos in den Papierkorb. Wenn man die einklebe, würde man sich später nur jedesmal neu darüber ärgern.
Gegen einen der hartnäckigsten Verfolger, Eintracht Braunschweig, spielte Gladbach auswärts 0:0. Jetzt mußte mal wieder ein Kantersieg her, notfalls auch ohne den verletzten Jupp Heynckes.
Papa chauffierte Mama und Volker nach Rheine, von wo aus sie mit dem Zug zur Küste fahren wollten, um in Ostende eine Fähre über den Ärmelkanal zu nehmen. In Dover sollte dann Onkel Bob Gewehr bei Fuß stehen.
Kein Wölkchen am Himmel. Leuchtender Sonnenschein überm Haus und innendrin eine sturmfreie Bude, aber was hätte ich da schon groß erstürmen sollen?
Als ich genug vom Klavierüben hatte, blätterte ich in Mamas und Papas Büchern, aber die brachten’s nicht. »Die Brücke von San Luis Rey«, »Homo Faber« und »Schlaf schneller, Genosse«. Alles Mist.
Ich durfte dann nach Jever fahren, ganz alleine: Mit dem Eilzug nach Norden und von da nach einer Stunde Aufenthalt mit einem anderen Zug weiter bis zum Zielbahnhof. Die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge hatte Papa mir aus dem Kursbuch herausgesucht, und Renate hatte mir ein Freßpaket gepackt: sechs Apfelschnitze, drei harte Eier und zwei Käsebrote.
Als Reiselektüre hatte ich mir eins meiner Fußballbücher und ein altes Walt-Disney-Taschenbuch eingesteckt. Da überfiel die Hexe Hicksi Onkel Dagobert mit ihrem Besen Beelzebub, und in einer anderen Geschichte gerieten sich die Panzerknacker in die Haare. Einer mit der Nummer 4032318 beschwor seine zerstrittenen Kumpane: »Hört auf, euch zu hauen! Ihr verschwendet nur eure Energie!«
In dem Fußballbuch wurden Franz Beckenbauers Heber erläutert und zur Nachahmung empfohlen.
Beachtet: Das Knie des linken Schußbeines lag beim Abschuß über dem Ball, die linke Hüfte lag ganz weit vorne. Und die entgegengesetzte (rechte) Schulter hat Beckenbauer ebenfalls nach vorne in die Schußrichtung gedreht …
Und da gab’s ’ne Vollbremsung! Irgendwelches Zeug flog am Fenster vorbei, und der Zug kam quietschend zum Stehen, auf freier Strecke. Kurz vor dem Bahnhof Norden. Außerfahrplanmäßig.
Nach ’ner längeren Zeit, in der sich nichts getan hatte, stiegen welche von den Passagieren aus und wollten nachkucken, was da los sei. Einer kam mit der Nachricht zurück, daß der Zug an einem Bahnübergang ein Auto überfahren habe. Fahrer und Beifahrer seien exitus.
Ob das Leichenteile gewesen waren, die ich am Fenster hatte vorbeifliegen sehen?
Ich stieg auch einmal selbst aus, für ein paar Sekunden. Es war nichts zu erkennen, aber ich hörte das Tatütata von Polizeiautos oder Krankenwagen.
Den Anschlußzug in Norden konnte ich vergessen, und was Papa dazu sagen würde, war vorherzusehen. Daß ich noch zu dämlich wäre für Bahnreisen auf eigene Faust.
Nach einer guten halben Stunde kam irgendein hohes Tier an und sagte, daß die Lok ausgewechselt werden müsse.
Weiter ging es erst mit einer Stunde Verspätung.
Auf dem Nordener Bahnhof suchte ich als erstes nach dem Fahrplan, aber ich fand keinen. Dann suchte ich nach einem Bahnbeamten. Als ich endlich einen aufgestöbert hatte, fragte ich ihn nach dem nächsten Anschluß nach Jever. Der Bahnmensch zeigte auf einen Schienenbus, der gerade abfuhr, und sagte, der habe hier auf die Fahrgäste aus meinem Zug gewartet.
Davon hatte keiner irgendwas durchgesagt, und trotzdem war ich Knalldepp als einziger zu blöd dazu gewesen, pünktlich in diesen Schienenbus einzusteigen.
Der nächste fuhr, wie ich herausbekam, erst eine Stunde später ab und hatte dann noch eine halbe Stunde Aufenthalt in Esens.
Weil ich Omas und Opas Nummer nicht wußte, rief ich von einem Münzfernsprecher aus in Meppen an, damit von da aus jemand meine neue Ankunftszeit nach Jever durchgeben konnte.
Am Telefon führte Papa sich so auf, als ob ich selbst die Karambolage verursacht hätte: »Das war ja mal wieder klar, daß du irgendwo im Niemandsland strandest, wenn man dich Hornochsen auf die Menschheit losläßt!«
In Esens las ich das Buchkapitel über den Rechtsaußen George Best. »El Beatle«, so hatten sie den genannt, wegen seiner langen Haare. Trinken würde er gerne und viel, wenn auch nur das schale englische Schwachbier.
Dafür bummelt er oft bis zum Morgengrauen, und seine Flirts sind kaum zu zählen. »Wenn ich dreißig bin«, so hat er verkündet, »will ich eine Million haben; dann ziehe ich mich zurück.« Meinte er eine Million Pfund?
Die halbe Stunde Zwischenaufenthalt war schon lange rum, und der Zug hätte längst weiterfahren müssen. Um den Schaffner nach dem Grund für die Verzögerung zu fragen, lief ich bis in den letzten Waggon des menschenleeren Zugs und dann nach vorne, bis in den ersten Waggon, aber es gab keinen Schaffner.
Ruhig Blut, sagte ich mir, kehrte zu meinem Sitzplatz zurück und las das nächste Kapitel. Über Bobby Moore. Der war schon zweimal unrasiert vor der englischen Königin erschienen, um aus deren Händen einen Siegespokal zu empfangen. Das sei sein Aberglaube, hatte er gesagt: Vor entscheidenden Kämpfen rasiere er sich nie …
Inzwischen stand der Zug seit über einer Stunde reglos rum. Ob ich nicht doch mal aussteigen sollte, um mich bei irgendwem danach zu erkundigen, was da im Gange war? Aber wenn der Zug dann abfuhr, mit meinem Gepäck und ohne mich? Papa hätte mir den Kopf abgerissen.
Nachdenken und Bahnfahren. Oder Ausharren.
Als der Zug anderthalb Stunden lang stillgestanden hatte, wagte ich es doch. Bahnmenschen waren keine zu finden, und ich rief wieder in Meppen an und erfuhr von Papa, daß mir in Norden Kokolores erzählt worden sei: In Esens habe dieser Zug nämlich geschlagene zwei Stunden Aufenthalt!